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LA FILLE INCONNUE. Jean-Pierre Dardenne & Luc Dardenne (B/F, 2016)

v16fille031Bildquelle: (c) Viennale

Inhalt

Vieles scheint genau so, wie man es kennt von den Brüdern Dardenne: Ort der Handlung ist einmal mehr das belgische Städtchen Seraing; die Kamera folgt den Figuren als aufmerksamer Beobachter; viele aus früheren Filmen vertraute Gesichter tauchen auf. Neu dagegen ist Adèle Haenel, die hier mit hypnotisierendem Minimalismus die Ärztin Jenny spielt, die sich für den Tod einer Frau aus Afrika verantwortlich fühlt, weil sie deren spätes Klingeln an ihrer Praxistür ignoriert hatte. Neu ist auch, dass sich das Geschehen als Krimi entfaltet, mit Jenny als engagierter, unermüdlicher Ermittlerin im Zentrum. (c) Viennale

Kritiken

Die Namenlose am Rande des Ufers
von Julia Baschiera Philomena

Eine Stunde nach Ordinationsschluss läutet es an der Tür. Der Praktikant steht auf und möchte die Hilfsbedürftige hereinlassen. Aber die Ärztin Jenny widerspricht intuitiv, um den hierarchisch unterlegenen Julien zu korrigieren. Am nächsten Morgen wird die junge Frau Doktor mit der Nachricht konfrontiert, der späte Gast sei tot in einem nahen Fluss aufgefunden worden und unidentifizierbar.

Die belgischen Frères Dardenne haben mit „La fille inconnu“ ihren zehnten Spielfilm verwirklicht und mit Adèle Haenel in der Hauptrolle als Jenny Davin ein bemerkenswertes Portrait einer jungen Ärztin gezeichnet, welches 2016 im Rahmen des Festival de Cannes seine Weltpremiere feierte. „La fille inconnu“ behandelt Themen wie anonyme Co-Existenz, die Veränderung der eigenen Prinzipien, Schuldgefühl als Antrieb und die Notwenigkeit der Identitätsfindung – sowohl jene der Mitmenschen, als auch die eigene.

Ein schönes Bild der Tristesse: Frau Dr. Davin arbeitet als Vertretung in einer Hausarztpraxis in Seraing. Diese befindet sich an einer Schnellstraße und wird so zum Sinnbild der im Film thematisierten Anonymität. Die Inneneinrichtung ist spärlich und ebenso der private Aufenthaltsbereich. Wenn sich Jenny in der Früh pflichtbewusst die Haare zusammenbindet, das Fenster öffnet, sich hinausbeugt und noch schnell eine Zigarette raucht, dröhnt der Straßenlärm, während der graue Himmel das Bild vereinnahmt.

Nicht mehr lange und Jenny könnte diesem nüchternen Ausblick entfliehen, denn ihr wurde ein hoher Posten an einem angesehenen Krankenhaus angeboten. Anfangs ausschließlich ihrem schlechten Gewissen geschuldet, entschließt sich die junge Medizinerin in der Hausarztpraxis zu bleiben. Sie will die Identität der verstorbenen Frau herausfinden, die vielleicht ermordet worden ist und die zuvor niemand je gesehen haben möchte. Sie entschließt sich einen Fall zu lösen, der selbstverständlich nicht in die Zuständigkeit einer Ärztin fällt, sonder in die der Polizei. Trotz wiederholter Aufforderungen, sich nicht in die Ermittlungen einzumischen, fährt Jenny manisch durch die von Ignoranz und Kälte geprägte Provinz und blickt dabei in vielfältigste menschliche Abgründe. Und das so lange, bis sie von einem ihrer eigenen Patienten, dem Schüler Bryan, in eine Schuttgrube geworfen wird und schließlich selbst um Hilfe schreit. Spätestens an diesem Punkt zeigt sich, dass sich Jenny mindestens genauso um ihre eigene Identitätsfindung bemüht, wie um die der Verstorbenen.

Als die Mauern des Schweigens langsam zu bröckeln beginnen und die ersten in den Fall Involvierten anfangen zu sprechen, wird aus der orientierungslosen Besessenen Jenny eine empathische Vertrauensperson. Von allen Seiten wird sie plötzlich nachts aus dem Schlaf gerissen, um sich die Lebensgeschichten und ethischen Verwerfungen der Anderen anzuhören. Mit therapeutischem Eifer folgt sie den Ausführungen. Liebevoll und aufmerksam verarztet sie die seelischen Malaisen ihrer Patienten und scheint ihre Ruhelosigkeit langsam aber doch zu verlieren.

Nicht zum ersten Mal tragen die Brüder Dardenne eine soziale Botschaft offen vor, allerdings erinnert die Narration zuweilen an so manche, vor Moral triefende Geschichte des 19. Jahrhunderts. Dass dieser pädagogische Impetus nicht überhand nimmt, ist Adèle Haenel zu verdanken, in der das Regie-Duo eine profilierte Darstellerin für eine faszinierende Frauenfigur gefunden hat. Der Ärztin beim Umgang mit ihren Patienten zuzusehen ist berührend, ebenso die Transformation ihres Charakters und die des leeren Blicks, der im Zuge des Filmes immer mehr Klarheit gewinnt. Man kann und möchte jedem Handgriff Glauben schenken und sinkt erleichtert zurück in den Kinosessel, wenn sich Jennys Suche als beendet versteht.

La Fille Inconnue
von Justin Schroeder

Zusehen und vor allem Zuhören ist was die Zuschauer in dem neuen Film von Luc und Jean-Pierre Dardenne machen sollen. La Fille Inconnue spielt, wie auch andere Filme der Dardenne Brüder, in Belgien und fängt Aspekte des Leben in einer Kleinstadt ein. Die Protagonistin dieses Films, eine junge Ärztin die sich schuldig fühlt einer jungen Frau nach Arbeitsschluss keinen Einlass in ihre Praxis gewährt zu haben, weiß zu Beginn noch nicht wirklich wo sie im Leben hin will. Die junge Unbekannte wurde am Tag darauf nicht weit entfernt von der Praxis tot aufgefunden. Jenny Davin die Ärztin hatte bis dahin große Pläne, so wollte sie diese Praxis bei der sie nur ausgeholfen hat am nächsten Tag verlassen um ihren Job in einer renomierten Privatpraxis anzutreten. Nach diesem Vorfall verändern sich ihre Prioritäten und Ziele komplett, sie will diese Praxis die wahrscheinlich hätte geschlossen werden müssen übernehmen und sie will unbedingt den Namen der Verstorbenen herausfinden. Jenny will nicht, dass die tote Frau einfach beerdigt wird und verschwindet ohne dass irgendwer weiß wer sie war. Für Jenny ist diese Suche auch als eine Form der Selbstläuterung zu verstehen die sie abschließen muss bevor sie sich wieder ihrem eigenen Leben zuwenden kann.

Wie auch bereits in früheren Dardenne Filmen stehen in diesem Film soziale Verhältnisse ziemlich weit im Vordergrund. Das „Zuhören“ ist das zentrale Motiv, welches sich durch den ganzen Film zieht, wie auch Luc Dardenne selbst gesagt hat, und die einzelnen Situationen verbindet. Weitere Motive die sehr prominent im Film auftreten sind beispielsweise das Mobiltelefon, welches in diesem Film als regelrechtes Allzweckwerkzeug ausgestellt wird. Jenny benutzt es in erster Linie natürlich um zu kommunizieren über Anrufe und Sms aber auch als Stoppuhr um den Puls eines Patienten zu messen, als Fotoapparat um ein Foto der Verstorbenen zu machen und als Plattform um das Foto wieder herzuzeigen.

Die Suche nach dem Namen des Mädchens ist zugleich spannend als auch frustrierend da Jenny sehrwohl mehrere Personen trifft die Informationen über das Mädchen haben aber ihr zuerst nichts erzählen wollen um ihre eigene Position zu schützen. Wie in vielen Dardenne Filmen ist auch das Thema der Immigration in diesem Film zu finden wenn auch nicht so explizit wie in Le silence de Lorna (2008), so handelt es sich bei der jungen Unbekannten um eine Immigrantin, die falsche Papiere besitzt, was die Identifikation natürlich noch schwieriger macht. Eine Schlussfolgerung die aus dem Film gezogen werden kann ist, dass Heilung erfahren werden kann indem man seine Taten akzeptiert und bereit ist darüber zu reden. Der Film besticht durch seine klaren Aussagen und die interessante Art und Weise, wie die Dardenne Brüder diese bereits oft behandelte Thematik in diesem Film einmal etwas anders darstellen.

Für immer vermisst?
von Susan Catherine Häußermann

Die bekannten belgischen Filmemacher und Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne präsentieren der Welt dieses Jahr ihren neuen Film La Fille inconnue, welcher sich in eine bereits lang existierende und stetig wachsende Liste an Werken der Dardenne Brüder einreihen darf.

Das Leben einer jungen Hausärztin namens Jenny Devin, die von der mehrfachen César-Gewinnerin Adèle Haenel verkörpert wird, änderte sich schlagartig, als es eines abends nachdem die Praxis bereits seit einiger Zeit geschlossen war, an der Tür klingelte. Als ihr Studienpraktikant Julien (Olivier Bonnaud), zu dem Jenny einen ungewöhnlichen Umgang pflegte, im Begriff war die Tür zu öffnen, unterband sie die Aktion mit der Begründung, dass Menschen, die sich in einer Notsituation befinden niemals nur einmal klingeln würden. Dass sie die indirekte unterlassene Hilfeleistung bereits am nächsten Morgen bereuen würde, war ihr zunächst nicht klar. Doch durch die Videoaufnahmen der Überwachungskamera, welche vor dem Eingang der Praxis installiert war, belegten, dass es sich um eine junge, hilfesuchende Frau handelte, deren Leiche man anschließend unidentifiziert in der Umgebung gefunden hatte. Die Protagonistin Jenny, die einen Kollegen eigentlich nur zeitweise in seiner Praxis in einer Kleinstadt vertreten sollte, wird fortan von Schuldgefühlen gequält, welche sie zu einer privaten Ermittlung des Falls befähigen. Zu grausam wäre für sie die Tatsache, dass das unbekannte Mädchen ohne Wissen ihrer Familie und Freunde anonym beerdigt werden würde. Ohne Grund, ohne Namen, für immer vermisst. Mit einem Screenshot im Schlepptau, welcher von den Videoaufnahmen stammt und auf dem das von Angst gezeichnete Gesicht des noch unbekannten, toten Mädchens deutlich zu erkennen ist, macht sich Jenny auf eigene Faust auf den Weg und bringt sich nach und nach selber in eine gefährliche und verstrickte Situation.
Jennys Privatleben wird im Film zwar kaum diskutiert, es hat allerdings den Anschein als widme sie ihr Leben restlos der Medizin. In mehreren Szenen werden ihre innigen Beziehungen zu ihren Patientinnen und Patienten dargestellt. Sei es ein selbst komponiertes Lied, das für sie von einem ihrer Schützlinge vorgetragen wird oder kleine Präsente in Form von Lebensmittel, die sie gelegentlich nach ihren Hausbesuchen mit auf den Weg bekommt. Ihre Patientinnen und Patienten schätzen ihre Dienstbereitschaft und ihr Vertrauen.
In einem Film, der sich mit Mord und kriminellen Machenschaften beschäftigt ist es zudem auffällig, dass die Polizei, die sich ja eigentlich um solche Angelegenheiten kümmern sollten, nur eine sehr kleine bis nicht vorhandene Rolle auf der menschlichen Ebene spielt. Ihre Vorgehensweise ist sachlich und nicht wie Jennys emotional motiviert. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Jennys Methoden den Fall schneller lösen als die der professionellen Ermittler.
Der Film thematisiert einen Wendepunkt in dem Leben der jungen Ärztin. Man hat zunächst das Gefühl, dass sie auf Grund der Vorkommnisse ihre bereits sichere Anstellung in einer höher angesehenen Privatpraxis, ablehnt. Als könne sie sich ihrem eigenen Alltag erst wieder widmen, wenn sie den richtigen Namen und die Familienmitglieder der Frauenleiche gefunden hat. Erst dann könne sie wieder zur Normalität zurückkehren. Auf der anderen Seite scheint diese Ausnahmesituation der 24/7 Ärztin dabei zu helfen, ihren eigenen Weg im Gesundheitssystem zu finden. Einer Branche, in der es zunehmend mehr um Geld, Macht und Prestige geht, als darum denen Hilfe zu leisten, die es am dringendsten benötigen.
La Fille inconnue bedient sich einer simplen Story mit ebenso simpler Umsetzung. Dennoch schaffen es die Dardenne Brüder durch die vielschichtig gezeichneten Charaktere und einer dicht kreierten Stimmung die Rezipientinnen und Rezipienten ein mehr oder weniger spannendes Mitverfolgen der Geschichte zu ermöglichen.

La fille inconnue
von Lea Deborah Aigner

Ernste Miene und sorgenvolle Augen. So lernen wie die junge Ärztin Jenny Davin von Anfang an kennen. Dies ändert sich dabei fast den ganzen Film über nicht. Verwundernswert ist das nicht, denn Jenny ist im Dauerstress, immer einsatzbereit und egal um welche Uhrzeit für ihre Patienten da. Nur an einem Abend lässt sie ihre sonst so gute Intuition im Stich. Und genau an diesem Punkt nimmt das Drama von Jean-Pierre und Luc Dardenne seinen Lauf.

Ein junges Mädchen läutet an der Tür der Praxis, die Jenny nur übergangsweise vertritt. Bald soll sie nämlich große Karriere machen. Doch Jenny macht nicht auf. Die Praxiszeit ist schon längst vorbei, meint sie zu ihrem Praktikanten. Am nächsten Morgen wird jedoch eben jenes Mädchen, tot auf dem Ufer der Maas gefunden. Namenlos und mit unbekannter Identität. Schlechtes Gewissen macht sich bei Jenny breit und die Frage nach der Moral beginnt. Hätte sie das Mädchen retten können? Ist sie schuld an ihrem Tod? Fragen, die der jungen Ärztin zu schaffen machen. Aus schlechten Gewissen heraus macht sie es ich zur Aufgabe die Identität des afrikanischen Mädchens heraus zu finden. Gleichzeitig ist es auch der Moment, in dem sich Jenny selbst aufgibt und ihr Leben nur noch für ihre Patienten und für das „fille inconnue“ lebt. Bezeichnend dafür ist der Umzug von der privaten Wohnung in die Praxis. Jennys Charakter beginnt sich zu wandeln. Dabei können die Zuschauer tief in die Gefühlswelt der jungen Ärztin hinein sehen. Nahaufnahmen, realistisches Licht und der spärlich ausgestattete Raum der Praxis unterstreichen die Tristesse des Alltags. Schließlich übernimmt Jenny sogar die Praxis des pensionierten Arztes. Jenny verwandelt sich von der karriereversierten Ärztin zu einer selbstlosen Frau, die dem armen Milieu in Liege ganz nahe ist. Sie taucht damit in eine Welt der Prostitution, Armut und Gewalt ein und tut alles um die Ermittlungen nach dem unbekannten Mädchen voran zu bringen. Mit der Suche nach der Identität des afrikanischen Mädchens gibt sie schließlich ihre eigene Identität auf. Man fragt sich aus Zuschauer bald: Wer ist Jenny überhaupt?

Eine junge Frau die scheinbar keine Familie, keine Freunde hat und keine Beziehung führt. Die einzig menschliche Bindung die sie zu pflegen scheint, ist die zu ihrem Praktikanten, der am Tag des Geschehens das Handtuch wirft. Jenny Davin ist so mehr ein Mittel um auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen. Mit dem engelsgleichen Charakter der Ärztin zeigen die Dardenne-Brüder eine Person die verzweifelt versucht das soziale Ungleichgewicht der Welt auszubalancieren. „La fille innconnue“  hinterlässt ein schweres Gefühl und regt  zum Nachdenken an. Mit dem sozialen Drama wird nochmal darauf hingewiesen, dass unsere Gesellschaft noch mehr Solidarität, Nächstenliebe und Engagement braucht. Mit der Frage wie weit die Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft gehen sollte, wird der Zuschauer aber schließlich alleine gelassen.

La Fille Inconnue
von Morteza Latif

Ein unbekanntes Mädchen erkannt ein anderes Mädchen (junge Ärztin)

Die Suche nach einem unerkannten Mädchen von einer jungen Ärztin ergibt teilweise ihr Charakter. Mit einer langen Halbtotalen Aufnahme (fast das ganze Film ist ein Medium Close Up von junger Ärztin) kennen wir ihr mehr als das unbekannte Mädchen. Auf einer anderen Weise kennen wir die zwei junge Frauen: wir sehen die eine im Bild, weil wird die andere durch das Verfolgen von Jenny im unserer Fantasie dargestellt.

Jeder kann sich etwas einbilden. Es kann auch als „suspens“ des Films benannt werden. Der Film beginnt mit einer Szene, wo Jenny mit ihrer Assistentin, die Atmung, einen alten Man untersucht. Die Atmung wirkt als Symbol des Lebens. Sowohl sie fühlt sich verantwortlich für das Leben Ihren Patienten als auch für das Tod des jungen Mädchens. Ihre Verantwortlichkeit werde in der nächsten Szene realisiert werden, wo sie im Haus des alten Manns nach der Untersuchung mit seiner sozialen Betreuung telefoniert. Oder ein klares Element ist das Ihr Handy für Ihre Patienten immer verfügbar ist. Das könnte auch als Schuldgefühl betrachtet werden. Jenny glaubte, das, wenn sie die Tür für Mädchen geöffnet hätte, würde das Mädchen nicht gestorben. Schwerpunkt des Films ist das die“ Suche“ wird mit dynamisch Kamera visualisiert. Die Kamera auf der Hand erlaubt dem Zuschauer sich aktiv zu fühlen. Mise en Scene wurde oft Verfolgung der Kamera deren Sujet gestaltet.

Wir sehen oft Jenny und bleiben wir bei ihr als Zuschauer und finden die Möglichkeit auf Jenny zu fokussieren. Es gibt kein hoher Rhythmus. Es gibt wenige Schnitte und das Montag versucht mit Jump Cut die Handlung darzustellen. Statt Schuss und gegen Schuss wurde die Szene mit Kameraschwenk gedreht. Der wolkige Wetter beeinflusst die Spannung des Films. Die Beleuchtung ist ganz realistisch und kein sentimental oder Surreal Beleuchtung existiert. Wie ich vorher erwähnt habe, ist der Film in einem halbtotalen und wenigen Großaufnahme von Jenny gedreht. Regisseure bemühen sich durch eine gewisse Form um Jennys Charakter zu interpretieren. Die Frage, ob sie für den Tod des Mädchens schuldig ist, taucht hin und wieder auf. Wir konfrontieren in vielen Momenten unsere Leben mit solchem Geschehen: wie wir besser reagieren sollen oder sollten.

Ob wir an Schicksal glauben müssen? Kommt Tod an einem gewissen Zeitpunkt und niemand kann ihn aufhalten? Kann eine Ärztin ihn verschieben ? Die sind auch andere Fragen, die im Film uns beschäftigen.

„La Fille Inconnue“
von Rüya Ince 

Mit dem Film „La Fille Inconnue“ hat das wohl berühmteste Regieduo des europäischen Autorenfilms, Jean-Pierre und Luc Dardenne, einen weiteren Beitrag zur Viennale geliefert. Der Film handelt von der jungen, aufstrebenden Ärztin Jenny, die nach einem Vorfall vor ihrer Praxis den darauffolgenden Todesfall untersucht, was sich jedoch als sehr schwierig herausstellt, da sie auf eine Mauer des Schweigens stößt und in ihren Nachforschungen immer tiefer in einen Strudel aus menschlichen Tragödien und kriminellen Machenschaften gerät.

 

Der ganze Film ist von Anfang bis Ende von einer hochgradig bedrückenden Atmosphäre durchdrungen, die den Spannungsbogen aufrecht erhält. Sowohl diese Ästhetik, als auch die Gestaltung des Films wie die Präferenz der Regisseure für längere Einstellungen und der fast völligen Abwesenheit von Filmmusik verleihen dem Film ein recht realistisches Gefühl.  Der Film bleibt in seinem Verlauf äußerst nah an der Protagonistin Jenny und versucht zu veranschaulichen, wie sie mit ihren Schuldgefühlen über den Todesfall umgeht und in dieser Weise sich mit Fragen des sozialen Gewissens auseinandersetzen muss. Insbesondere die emotionalen Hintergründe der Charaktere sind für ihre Handlungen von großer Bedeutung: Warum die Figuren das tun, was sie tun, wird häufig erst gegen Ende des Filmes für den Zuschauer ersichtlich, sodass die genaue Rolle vieler Charaktere bis zum Schluss unklar bleibt. Im Vordergrund des Films steht das moralische Gewissen der Figuren und die Gewissenskonflikte, in denen sie sich befinden.

In diesem Krimi-Drama beschäftigen sich Jean-Pierre und Luc Dardenne mit sozialen und politischen Problemen wie sozialen Schichten in der Gesellschaft, Gewalt an Frauen und schildern das Leben normaler Menschen vor einem außergewöhnlichen Vorfall der gesellschaftlichen Realität. Es gelingt den Dardennes, diese gesellschaftliche Problematik wiederzugeben, ohne in Klischees zu verfallen und stereotype Charaktere zu beschreiben.

Schuldanamnese
von Martin Knuhr

La fille inconnue stellt Fragen nach Schuld und Sühne, leidet jedoch zunehmend an der Inszenierung seiner Protagonistin

Jenny ist gut in dem, was sie tut. Sehr gut sogar. Die junge Ärztin arbeitet professionell, berechnend und selbstbeherrscht. Ihr winkt eine vielversprechende Anstellung und eine rasante Karriere.  In der Praxis, die sie vertretungsweise übernommen hat, läuft alles streng nach Vorschrift. Ein Arzt, der sich von falschem Mitgefühl mitreißen lässt, macht Fehldiagnosen, erklärt sie Julien, ihrem Medizinstudenten-Gehilfen. Da ist es nicht verwunderlich, dass Jenny Julien verbietet, einem nach Ende der Praxisöffnungszeiten ertönenden Läuten an der Tür nachzugehen – bei einem Notfall wird ja nachdrücklicher geklingelt. Ein zweites Läuten wird es nicht geben. Die Hilfesuchende wird am Folgetag unweit der Praxis gefunden. Mit gebrochenem Schädel, aber ohne Namen. Sie wird zu jenem titelgebenden unbekannten Mädchen, deren Identität aufzuklären zu Jennys quasiheiliger Berufung wird.

Ein tiefes, verzehrendes Gefühl von Schuld ergreift Besitz von der jungen Medizinerin, die, wie um Buße zu tun, Karriere und Status in den Wind schlägt, die Praxis mit den wenig glamourösen Kassenpatienten übernimmt und auf eigene Faust beginnt, zu ermitteln. Ihre Fähigkeiten als Ärztin leisten ihr dabei auch als Kriminalistin gute Dienste und Schritt für Schritt tastet sich Jenny über eine Vielzahl von Gesprächen mit Patienten und Verdachtspersonen auf den Namen der toten Immigrantin zu, wobei ihr zugleich die Aufklärung des Verbrechens gelingt und sie neben der Suche nach Absolution ihres Versäumnisses in die Abgründe ihrer Mitmenschen blickt.

Die naturalistische, sozialkritische Herangehensweise, welche den Arbeiten des Drehbuchautoren- und Regisseurbruderpaars Luc und Jean-Pierre Dardenne so eigen ist, kommt auch in La fille inconnue zur vollen Geltung. Jennys Reise auf der Suche nach Vergebung führt sie in eine Vielzahl von Lebenssituationen und Gesellschaftsschichten, die, wenn auch nur wenige Häuserblöcke voneinander getrennt, unterschiedlicher nicht sein könnten. Gehbehinderte, verarmte Diabetiker, farbige Drogendealer, Prostituierte und Mittelständler kreuzen ihren Weg. Bedauerlich ist, dass bei aller Milieustudie gerade die Hauptfigur so bedauerlich blass bleibt. Wir erfahren wenig von Jenny, ihre moralische Obsession ob ihres Fehlverhaltens bleibt einziger Antriebsgrund ihres Charakters. Sie wird misshandelt, bedroht, männlicher Gewalt ausgesetzt, doch macht es aus ihr keine vielschichtigere Figur, eher einen Scherenschnitt, welchem dem Handlungsfortschritt angemessen dramatisierte Dinge geschehen, die abgearbeitet werden müssen. La fille innconue hätte eine Reflexion über Schuld und Pflichtbewusstsein vor dem Hintergrund von Privileg und Lebenssituationen an der Peripherie der Gesellschaft sein können, sein sollen. Es verkommt tragischerweise zunehmend zu einem mediokren Whodunit auf Tatortniveau.

THE SACRED DISEASE. Erica Scoggins (USA, 2015)

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Inhalt

Zu Zeiten des Hippokrates nannte man sie «die heilige Krankheit». Man dachte, kalter Gehirnschleim würde in die warmen Adern hinabfließen und die Anfälle auslösen. Heute ist klar, dass epileptisches Geschehen von elektrochemischen Störungen im Gehirn ausgelöst wird. Aber wie es sich anfühlt, weiß nur, wer es selbst erlebt hat. Ihre Erfahrungen mit der Krankheit ließ Scoggins in diesen klug komponierten, famos fotografierten, elegischen Film einfließen, der uns in einen magischen Wald wortlosen Wahnsinns entführt. Ditch the pills and try to embrace the ecstatic moment! (c) Viennale

Kritiken

Die Filmkritiken folgen in Kürze (-:

LIL‘ TOKYO STORY. Matthew Lax (USA, 2016)

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Eine Szene aus Ozus berühmtem Werk TOKYO MONOGATARI (1953) wird nachgestellt, den Platz der Frauenrollen Noriko und Kyoko nehmen zwei männliche japanische Immigranten ein. Klingt schräg, aber der eigentliche Witz daran ist, dass hier zwei Szenen im Splitscreen gegeneinander arbeiten. Eine nutzt den japanischen Originaldialog mit wörtlich ins Englische übersetzten Untertiteln, die andere den ursprünglichen englischen Untertiteltext, ins Japanische rückübersetzt. Wer glaubt, das sei eine Parodie, liegt falsch: «It is simply an alternative read of the original text, a gesture.» (Matthew Lax) (c) Viennale

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HOW TO CRACK HARD-BOILED EGGS. Chy Chi (USA, 2016)

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Natürlich ist dies nicht buchstäblich eine Gebrauchsanleitung zum Eierschälen, auch wenn der Titel und die erste Einstellung darauf hindeuten. Vielmehr ist es eine nachtdunkle Momentaufnahme aus dem Leben einer koreanischen Immigrantenfamilie. Die Tochter macht sich Sorgen um den Vater, denn der singt plötzlich den ganzen Tag, trinkt zuviel und verhält sich überhaupt ziemlich merkwürdig. Als er sich angeblich mit einem Freund in einer mexikanischen Bar verabredet, wird es ihr zu bunt. Es dauert seine Zeit, aber am Ende wird sie die Schale knacken. (c) Viennale

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FOR PARADISE. Elizabeth Webb (USA, 2016)

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Für ihre Arbeit UNTITLED (THIS IS THE BEST WAY TO KNOW ME) inszenierte sich die Künstlerin nackt in einem Bambuswald und schüttelte ihre Brüste, machte sich sozusagen selbst zum Symbol für den ausgebeuteten kolonialen Körper. Die Filme der jungen US-Amerikanerin kreisen um Rasse- und Identitätsfragen; den Blick auf die eigene Familiengeschichte nutzt sie wie ein Brennglas, um dahinter liegende Identitäts-Konstruktionen zu erforschen. So auch in diesem dokumentarisch- essayistisch-experimentellen Hybridfilm, in dem Webb den Spuren ihrer in Teilen afroamerikanischen Herkunft folgt. (c) Viennale

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Die Filmkritiken folgen in Kürze (-:

BOYS. Eyal Resh (USA, 2016)

*** Local Caption *** Boys, , Eyal Resh, USA, 2016, V'16, KurzfilmeBildquelle: (c) Viennale

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Brian und Jake gehen gemeinsam zur Schule. Sie spielen zusammen im Garten hinter Jakes Haus, sind beste Freunde in American Standard Suburbia. Der Film erzählt vom Sommer, als die beiden 12 waren und Brian einmal bei Jake übernachten durfte. Es ist eine Erinnerungswelt, in die wir eintauchen, es sind ein paar prägende Momente der Adoleszenz, denen wir beiwohnen, und es ist ein subtiler Prozess der Gefühlstransformation, den wir beobachten dürfen. «It is a story of the very first steps of understanding sexual affinity before it even takes a form or a shape.» (Eyal Resh)! (c) Viennale

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Die Filmkritiken folgen in Kürze (-:

PATERSON. Jim Jarmusch (USA, 2016)

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Wenn einer aus dem Wörtchen «Aha» ein ganzes Poem machen kann, dann Jim Jarmusch. Um die poetische Kraft des Einfachen geht es in PATERSON, in dem Adam Driver mit schräger Präzision einen Busfahrer verkörpert, der als Echo auf den großen Dichter William Carlos Williams und dessen Werk «Paterson» angelegt ist. Jarmuschs einfallsreiche 16 Spielfilme © Mary Cybulski Alltagsszenerien mit ihren rituellen Wiederholungen und trockenen Dialogen kommen zunächst gewohnt putzig daher, aber wer will, erkennt bald eine so fesselnde wie entspannte Auseinandersetzung über Kreativität und ihre Regeln und Vorbedingungen – mit einem launigen Hund als Agent des Zufalls und der Zerstörung. (c) Viennale

Kritiken

Mittelmäßigkeit als poetisches Meisterwerk
von Jochen Schmidtberger

In Paterson, Jim Jarmusch neuestem Filmwerk, dreht sich alles um… genau: Paterson. Die Doppelung, dem Protagonisten den Namen der Stadt tragen zu lassen, trägt bereits eine genuine Komik in sich und lässt die von Adam Driver geschickt bis ins kleinste Detail verkörperte Figur als tragisch komischen Protagonisten wirken.
Er, Paterson, dem sich die Rolle des Titelhelden nicht so recht einschreiben will, ist unaufregend, angepasst, in seiner Sprache einfach und in strikten Routinen gefangen. So pünktlich er jeden Morgen, ganz der Poesie des Filmes geschuldet, in stiller Einfachheit neben seiner Geliebten erwacht, so legt Patersons auf die Minute durchgeplantes (Arbeits-)Leben nahe, dass er wohl auch seine Passagiere stets pünktlichst an ihre gewünschte Haltestelle bringt. Spannungsärmer kann eine Titelfigur wohl nicht sein, denkt man, vergleicht, zieht vielleicht voreilig den Schluss, dass es wohl das langweiligste Leben des amerikanischen Kleinstadtproletariats sein muss, dass in Zeiten der Krise gerade noch die Kurve gekratzt hat um nicht in jener hoffnungslosen Lethargie namens Arbeitslosigkeit zu versinken.

Doch Moment mal… in Zeiten der Krise? Wäre nicht der Hinweis darauf, dass Paterson kein Smartphone besitzt, könnte das Setting wohl auch in die 80-er Jahre gelegt werden. Es wähnt austauschbar zu sein, dieses Busfahrer-leben. Ob nun Paterson, Springfield, Clearwater, Temecula, South Bend oder gar Wiener Neustadt. Busse und ihre Fahrer prägen (noch) das Stadtbild, gelten als Zuverlässig und werden als wohltuend in sich ruhende Konstanten einer sonst immer hektisch werdenden (Verkehrs-)Welt wahrgenommen.

Und Antagonisten? Fehlanzeige. Die Beziehung zu seiner schwangeren Geliebten namens Laura, feinfühlig gespielt von Golshifteh Farahani, ist geprägt von trauter Zweisamkeit, gegenseitiger Unterstützung und einer unerschütterlichen Liebe, die nicht von dieser Welt scheint. Es ist nur allzu verständlich, dass sich beide bei ihren kleinen, unterschiedlichen Lebensentwürfen in jeder Hinsicht ergänzen.

Die Redundanz der Ereignisse, Jarmusch streift das Leben der zukünftigen Kleinfamilie von Montag bis Montag, erzählt von einem Leben auf Wolke 4, dem Einnisten in einer Komfortzone ohne Höhen und Tiefen, einem stillgelegten amerikanischen Traum, der viel zu weit entfernt liegt, als noch greifbar zu sein.
Patersons Leben ist ein kleinstädtischer Gegenentwurf zur hektischen postmodernen Arbeitswelt. Ein Arbeiterleben, wo die leeren Seiten des Notizbüchleins die einzige Möglichkeit bleiben, rau und ungeschliffen seinen Gefühlen ein Universum zu geben. So karg die Alltagspoetik auf den ersten Blick erscheint, ist sie doch, ganz dem großen Vorbild William Carlos Williams geschuldet, die einzige Möglichkeit seiner Sprachlosigkeit im Realen entgegenzuwirken.

Jarmusch zeigt Paterson als Synonym für männliche Spracharmut. Wo Worte fehlen, keimt kein Konflikt. Paterson wird nie Laut, streitet nicht, ist Fleisch gewordener Kompromiss. Mit stoischer Sicherheit durchquert er tagtäglich seine kleine Galaxie aus immer gleichen Straßen. In einer Welt, in der fragmentierte Fahrgastgespräche als Informations- und Unterhaltungsquelle dienen, ist kein Ereignis bedeutsam genug, um diese innere Ruhe zu (zer-)stören. Wer Paterson ist, woher er kommt und wie seine Geschichte lautet, gibt Jarmusch nur in kleinsten Fragmenten preis. Der Körper Paterson wirkt im hier und jetzt, nur ein altes Armeefoto deutet an, wo die nahezu pathologische Notwendigkeit zur Routine ihren Ausgang genommen haben könnte.

Kein klassischer Gegenpol und doch fein im Unterschied wirkt der Lebensentwurf der quirligen Laura. Von ihrer Bulldogge Marvin stets kommentiert dekoriert sie sich ihre Welt in schwarz weißen Mustern. Kleidung, Gardinen, Decken, Cupcakes. Selbst die von ihr begehrte Gitarre fügt sich in diese Welt ein. Obwohl Laura ein Sprachrohr zur Welt sein könnte, das Ticket zurück in den amerikanischen Traum, wird diese Reise wohl immer Utopie bleiben.

Paterson, ein poetisches Meisterwerk, ist ein unaufdringlicher Gegenentwurf zu höher, weiter, schneller. Ein Film über Menschen in der Behaglichkeit der mittelmäßigen Zufriedenheit, ohne Anmaßung und (Ab-)Wertung und zeigt doch ein düsteres Zukunftsbild einer Gesellschaft, deren Zellen immer kleiner und abgegrenzter werden und der Verknappung einer Sprache, die im Sog der unbegrenzten Möglichkeiten ihre Vielfältigkeit längst verloren hat.

Paterson
von Fabian Schubert-Heil

Paterson – Das ist für Jarmusch Charakter, Schauplatz und Mysterium. Diese Stadt in New Jersey beheimatete unter anderem den Boxer Rubin „Hurricane“ Carter, den Beat-Poeten Allen Ginsberg und den anarchistischen Königsmörder Gaetano Bresci. Es ist daher kaum verwunderlich, dass Jarmusch ein fasziniertes Interesse für diese Stadt an den Tag legt. Und so ist Paterson auch weniger eine stringente Geschichte als vielmehr eine Erkundung dieser Stadt, ihres Rhythmus, ihrer Kunst und ihrer Poesie. Von Montag bis Sonntag zeigt uns Jarmusch diese Stadt Paterson durch die Augen und den Alltag des dichtenden Busfahrers Paterson (Adam Driver). Am Beispiel des im Film omnipräsenten William Carlos Williams, selbst einmal praktizierender Arzt und Poet, untersucht Jarmusch die Beziehung von Alltag und Kunst. Paterson erwacht in tagtäglicher Routine, isst sein Müsli aus der immergleichen Schale, geht zur Arbeit, fährt seine Route, kommt wieder nach Hause, lässt sich von seiner Freundin bekochen, geht mit dem Hund und trinkt ein allabendliches Bier in der Bar seines Vertrauens. Was klingt wie ein depressiver Abgesang auf das amerikanische Kleinbürgertum, ist eine Spurensuche nach dem Schönen und dem Anderen in der Belanglosigkeit des Alltags. Der Protagonist lauscht seinen Fahrgästen bei Gesprächen gefüllt von sexuellem Selbstbetrug oder jugendlichem Idealismus – Scheinwelten und Sehnsüchte genau wie die unerfüllte Liebe eines Schauspielers, den Paterson wiederholt in der Bar trifft. Diese Sehnsüchte ziehen sich bis tief ins Private. Patersons Freundin Laura bekommt das Publikum nie außerhalb der eigenen vier Wände zu sehen. Eine liebevolle Frohnatur, die ihre äußere Erscheinung und die des Eigenheims einer strikten Ästhetik unterordnet: Schwarz und Weiß. Kleine und große Träume werden angeschnitten, sie reichen vom eigenen Cupcake-Geschäft bis zur Karriere als Country-Star. Cupcakes und Country – die Essenz der amerikanischen Durchschnittlichkeit. Paterson gibt den in sich gekehrten Gegenpart, verständigt sich oft nur durch Laute und

kleine Bewegungen im Gesicht und erzeugt damit eine Komik, wie wir sie von Jarmusch erwarten. Es gibt aber auch unglaublich kitschige Momente, wie die auf der Leinwand erscheinenden Zeilen Patersons und platte platzierte Witze, die sich in jeder Romantic Comedy finden lassen. Das könnte aus der Thematik heraus Absicht sein, doch dafür ist es wieder zu wenig ausgereizt und wirkt mehr wie eine Anbiederung Jarmuschs an den Mainstream. 2009 hat er zu einem ähnlichen Sujet noch einen gänzlich anderen Zugang gewählt: Auch The Limits Of Control ist eine Abhandlung über die Kunst und das Kino, allerdings in einer so reduziert ästhetisierten Form, die Plattitüden keinerlei Platz lässt. Paterson schwebt dazwischen. Genau wie unser Protagonist, der zwischen Tradition und Moderne, Arbeit und Poesie steht, ist der Film in sich gefangen. Zu wenig Kunst und nicht genug Pop. Man möchte diesem Film ein leeres Notizbuch reichen und ihn nochmal von Vorne versuchen lassen.

Die Poesie des Alltäglichen
von Martin Knuhr

Jim Jarmuschs Paterson findet Schönheit im Gleichklang des Gewöhnlichen und erzählerischen Sog in Ereignislosigkeit.

Wenn Sie mich fragen würden, worum es in Jim Jarmuschs neuem Film Paterson geht, brächten Sie mich in Verlegenheit. In einem Satz ist diese Frage nämlich wirklich nicht zu beantworten. Jarmusch, nie ein Freund klassischer Dreiaktstruktur, verabschiedet sich in Paterson gänzlich von einem auf Eindeutigkeit abzielenden Erzählen und tauscht Story gegen eine fast meditative Erfahrung von Repetition und kleinen Variationen besagter Wiederholung ein. Erzählerischer Anker ist Paterson, ein Busfahrer im gleichnamigen Städtchen in New Jersey, welchen wir durch eine Woche seines Lebens begleiten. Paterson wacht zwischen 6 und 6:30 Uhr neben seiner Frau Laura auf, deren Zuneigung er mit der eifersüchtigen Bulldogge Marvin teilt. Mit gefüllter Lunchbox spaziert er jeden Tag durch oft menschenleere Straßen zum Busdepot, fährt seinen Linienbus durch Paterson und lauscht Konversationsfetzen der Gespräche seiner Passagiere. Abends kehrt er heim zu Laura, führt Marvin spazieren und geht in der immer gleichen Bar ein (und genau ein) Bier trinken. Der Hund bleibt draußen. In dieser relativen Monotonie vergehen die Tage, doch an Paterson ist mehr zu finden, als das Auge auf den ersten Blick zu sehen vermag. Denn der ruhige, besonnene Paterson schreibt in sein „geheimes Notizbuch“ Gedichte von aufrichtiger Einfachheit und simpler Eleganz, Gedichte, die eine Streichholzmarke als Ausgangspunkt für eine Liebeserklärung wählen und die Paterson bescheiden nur mit Laura teilt. Laura wiederum ist ein unsteter Wirbelwind aus Ideen, Träumen und kreativer Energie, die von Tag zu Tag das gemeinsame Haus und sich selbst zunehmend mit schwarzweißen Spiralen, Kegeln und konzentrischen Mustern bedeckt. Am Montag will Laura ein Cupcakegeschäft eröffnen, am Mittwoch eine Karriere als Country-Sängerin beginnen. Paterson begegnet ihrer Sprunghaftigkeit mit liebevoller und stoischer Gelassenheit, deren bedingungslose Konfliktvermeidungsbemühung jedoch die Saat zukünftiger Konflikte in sich trägt. Wir erleben Paterson als empathischen, sensiblen Beobachter, der nach einer entsprechenden Bemerkung Lauras auf seinen Wegen überall eineiige Zwillinge entdeckt und dessen angedeutete militärische Vergangenheit übersehen wird, falls man im falschen Moment blinzelt. So wie ein durchschnittliches Leben seinen Gang nimmt, erleben wir keine großen Tragödien oder Ereignisse von signifikantem Ausmaß, was nicht bedeuten soll, Paterson würde nichts Ungewöhnliches zustoßen. Auch in der geordneten Monotonie ereignen sich Momente des Staunens, der Überraschung und des Schreckens, erinnerungswürdige Menschen treten kurz in Patersons Leben und verschwinden wieder, während der flächige, schwirrende Soundtrack von Jarmuschs eigener Band Sqürl sein Übriges dazu beiträgt, Patersons meditativen Charme zu untermauern und einen Film entstehen lässt, in dem der Weg das Ziel ist und sich der Blick auf die unzähligen kleinen und größeren Momente, Blicke, Anblicke, Unterhaltungen und Gewohnheiten schärft, die gemeinsam so etwas wie „Leben“ formen.

Paterson
von Susan Catherine Häußermann

Paterson lautet der Filmtitel des neuen Werks von Regisseur Jim Jarmusch. Dabei handelt es sich zum einen um den Namen des Protagonisten, gespielt von Adam Driver, der durch die Serie Girls und insbesondere durch Star Wars: Zeit des Erwachens einem größeren Publikum bekannt sein dürfte. Zum anderen bezeichnet Paterson den Namen des Handlungsortes, einer Stadt im US-Bundesstaat New Jersey. So zweideutig wie der Filmtitel ist, gestaltet sich auch der Film. Er erzählt auf der Mikroebene die Alltagsgeschichte Patersons, einem Busfahrer, dem die Zuschauerinnen und Zuschauer eine Woche lang bei seinem ritualisierten Tagesablauf mit leichten Variationen folgen dürfen. Aber auf der anderen Seite ist es auch eine Geschichte über die Stadt Paterson; ein urbaner Raum, der über seine Idole und Ikonen mythisiert wird.

Als Busfahrer durchfährt Paterson tagtäglich die Stadt, doch eine wirkliche Visualisierung findet nur sehr selten statt. Im Bus klammert sich die Kamera an den Protagonisten und die Personen, die er sieht und deren Gespräche, welche er teilweise aufschnappt. Der Weg zur Arbeit durch ein Fabrikgelände, seine Mittagspause an den Great Falls am Passaic River und der nächtliche Spaziergang mit seinem von dognapping bedrohten Hund sind die wenigen Versuche, die Stadt visuell greifbar und nahbar zu machen. Doch es sind die gesprochenen und geschriebenen Wörter, vermittelt durch die Bewohner der Stadt, welche den urbanen Raum definieren. Zwei Jungs, die zuvor noch Schattenboxen übten, unterhalten sich über einen berühmten Boxer, der aus Paterson stammte. Zwei Jugendliche bringen den italienischen Anarchisten Gaetano Bresci mit der Stadt Paterson in Verbindung. So wird Paterson nicht nur als bedeutender Ort der amerikanischen Literaturgeschichte etabliert, wie wir ihn durch den Protagonisten erleben. Große Idole vergangener Tage prägen die einzelnen Leute und somit die Stadt selbst. Ein Monument dessen, ist die Bar, in die es Paterson jeden Abend zum feierabendlichen Bier zieht. Der Barkeeper beklebt die Wand mit Plakaten und Zeitungsartikeln aus Paterson, die wichtig für die Stadt selbst, aber auch für die Identitätsbildung der einzelnen Bewohner erscheint. Nicht nur findet sich ein Bild des bekannten amerikanischen Schauspielers Lou Costello an der Wand dieser Bar, auch in einem lokalen Kino werden seine Filme aus den 40er- und 50er-Jahren noch immer aufgeführt.

Inspiriert von William Carlos Williams – oder war es Carlo William Carlos? – fünfbändigem Gedichtszyklus Paterson, welches auch mehrfach im Hintergrund oder über Kameraschwenks erscheint, streift Paterson unter visueller Einblendung durch Schriftzüge und tonaler Akzentuierung über seine eigene Over-Voice durch die Stadt und widmet sich in seiner Freizeit seinen eigenen lyrischen Gedanken. Nahezu selbstverständlich wird Paterson auch am Ende des Films von einem japanischen Besucher und Dichter gefragt, ob er selbst auch ein Dichter sei, wie Williams. Paterson wird so zu einem mythischen Ort erhoben, der durch Literatur und Poesie definiert wird und ein anderes Erleben der Stadt und des urbanen Raumes ermöglichen. Auf visuell poetischere Weise erkundete Jim Jarmusch in seinem Film Only Lovers Left Alive (2013) bereits die marokkanische Stadt Tanger, die so bedeutend für die Autorinnen und Autoren der sogenannten Beat Generation, wie Jack Kerouac und William S. Burroughs war. William Carlos Williams wird dieser Generation zwar nicht zugerechnet, aber sein Einfluss auf den Beat Lyriker Allen Ginsberg und dessen Gedicht Howl, ist nicht von der Hand zu weisen. Außerdem kommt die Stadt Paterson als Setting in Jack Kerouacs Roman Unterwegs (Originaltitel: On the Road) vor, was durchaus einen Brückenschlag zu Jim Jarmuschs Vorgängerfilm Only Lovers Left Alive zulässt.

Neben der Erschaffung eines mythischen Ortes, widmet sich Jim Jarmusch auf der Mikroebene dem Wochenzyklus des Protagonisten Patersons, der in dieser Stadt seinen Platz zu finden versucht. Einen Wecker braucht er nicht, sein Körper hat sich an die ritualisierte Abfolge seines Alltags bereits eingestellt. Aufstehen, ein Müsli aus der Tasse, der Arbeitsweg durch ein Fabrikgelände, seine Gedanken vor Arbeitsbeginn niederschreiben, der vermeintliche Small Talk mit einem Kollegen, seine Route fahren, nach Hause gehen, den Briefkasten richten, Abendessen mit seiner Frau, der Spaziergang mit seinem Hund und der Absacker in seiner Stammkneipe. Kleine Variationen dieses Ablaufs und die konträr zum Protagonisten gezeichnete Figur Laura, gespielt von Golshifteh Faharani sorgen für ein Minimum an Spannung und halten die Zuschauerinnen und Zuschauer bei Laune.

Paterson
von Lisa Eckerstorfer 

Jim Jarmusch Tragikomödie Paterson nimmt uns mit auf eine Reise durch das alltägliche Leben des gleichnamigen Busfahrers Paterson, gespielt von Adam Driver. Premiere feierte der 2016, in den USA produzierte Spielfilm bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes. Jarmusch erzählt auf seine gewohnt minimalistische Art und Weise die Geschichte von Paterson, der jeden Morgen zur selben Uhrzeit den Tag beginnt und routiniert seine Arbeit verrichtet. Nach dem gemeinsamen Essen mit seiner Frau Laura, verkörpert von Golschifteh Farahani, geht Paterson jeden Abend mit dem Bulldoggen Marvin spazieren. Auf halben Wege hält er bei einer Bar anhält, um sein gewohntes Bier zu trinken.

Die sich immer wiederholenden Perspektiven, Kameraeinstellungen und die ähnlich ablaufenden Szenen unterstreichen den rituellen Tagesrhythmus. Der Film würde fast schon schleppend vorangehen, wäre da nicht Laura, die Paterson jeden Tag mit neuen, künstlerischen Ideen beeindrucken wollen würde. Paterson selbst flüchtet aus der fortwährenden Alltäglichkeit in die Poesie. Die Gedichte, die er in einem kleinen Notizbuch festhält, unterbrechen dabei nicht nur Patersons routinierten Ablauf, sondern auch die Handlung des Films. Immer wieder nimmt der Text die gesamte Leinwand ein und rückt das Geschehen in den Hintergrund. Inspirieren lässt sich Paterson von seinen eigenen Erfahrungen und von dem großen Dichter William Carlos William.

Jim Jarmusch Vorliebe für Schwarzweißfilme, wie sie aus früheren Produktionen wie Dead Man oder Stranger than Paradise bekannt ist, lässt sich abgewandelt auch in Paterson wiederfinden. Denn Laura hat eine Schwäche für all jenes, was schwarzweiß gemustert ist. Egal ob es sich dabei um Vorhänge, eine Gitarre oder ihre Cupcakes für den Bauernmarkt handelt.

Obwohl in den 118 Minuten erstaunlich wenig passiert, der Humor trocken und die Dialoge nüchtern bleiben, schafft es Paterson, durch seine gekonnten, überraschenden Wendungen und den humorvollen Zufällen, sein Publikum in den Bann zu ziehen. Auch wenn Paterson mit nur wenig Plot auskommt, ermöglicht der Film, in die Welt der beiden Protagonisten einzutauchen. Patersons Alltag scheint dabei selbst zur Poesie und Lauras Träume zur Realität zu werden.

Somit bleibt nur noch die Frage zu klären, was mit einem routinierten Leben, wie Paterson es führt, passiert, wenn das Notizbuch voller Gedichte eines Tages von dem eigenen Hund in tausend Einzelteile zerrissen wird.

Paterson
von Jan Lamprecht

Auf einen Satz heruntergebrochen könnte man die Geschichte des Film „Paterson“ wie folgt beschreiben: Der Film Paterson spielt in der amerikanischen Industriestadt Paterson und erzählt das alltägliche Leben eines Busfahrers mit dem Namen Paterson. Es ist eine einfache Geschichte, wobei das Wort einfach hier nicht als ein Kritikpunkt angesehen werden kann, vielmehr als eine angenehme Abwechslung zu Filmen die ohne ein Ereignis das das nächste jagt nicht funktionieren können.

Paterson (Adam Driver) ist ein ruhiger, sympathischer Busfahrer in der Stadt Paterson und lebt mit seiner Freundin Laura (Golshifteh Farahani) und der Bulldoge Marvin zusammen. Paterson wacht jeden morgen ohne die Hilfe eines Weckers auf, isst seine Frühstücksflocken geht zur Arbeit und fährt seine Runde mit dem Bus. Jede freie Minute, die ihm auf der Arbeit und zu Hause bleiben, widmet er seiner großen Leidenschaft der Poesie. Zu Hause angekommen unterhält er sich kurz mit seiner Freundin Laura und geht anschließend mit der Bulldoge Marvin Gassi. Auf seiner Gassitour hält er jedes mal bei der selben Bar an und lässt seinen Tag mit einem Bier ausklingen. Diesen Tagesablauf bekommen wir als Zuschauer genau siebenmal zu sehen von Montag bis Sonntag. Seine Freundin Laura bildet das Pendant zu dem in sich gekehrten Paterson. Sie scheint keine feste Arbeit zu haben, aber schafft es trotzdem sich ständig zu beschäftigen, sei es indem sie das Wohnzimmer umgestaltet oder Muffins für den nächsten Bauernmarkt bäckt. Wobei hier ein kurzer Exkurs im Film, wie sich dieses ungleiche Paar kennengelernt hat, sehr interessant gewesen wäre.

Der Regisseur Jim Jarmusch der auch das Drehbuch für den Film schrieb schafft es trotz dieser Einfachheit des Filmes den Zuschauer in den Bann des Geschehens zu ziehen. Das gelingt vor allem durch den hervorragenden Cast und speziell dem ungleichen Paar  Adam Driver und Golshifteh Farahani. Der Film lebt von seinem Humor und so entfaltet sich eine Menge Witz, wenn Laura wieder einmal versucht Paterson von einer ihrer Ideen oder ihrer neuen Leidenschaft zu überzeugen. Bei dem Humor in dem Film spielt die Bulldoge Marvin eine wichtige Rolle. Ständig wird er bei Aufnahmen im Haus gezeigt und seine „Reaktion“ zu dem sich gerade ereignenden Geschehen. Dieses humoristische Mittel erzielt die ersten Male durchaus seine Wirkung, doch wirkt im Laufe des Filmes mehr und mehr überstrapaziert und gegen Ende teilweise sogar störend.

Neben seinem Humor ist die Poesie der zweite Pfeiler auf dem dieser Film steht. Paterson zeigt niemanden seine Gedichte und trägt sie auch nicht vor, trotzdem scheint seine Freundin von seiner Poesie überzeugt zu sein und nötigt ihn seine Gedichte am Wochenende zu drucken und zu veröffentlichen. Dieses Vorhaben wird jedoch von Marvin verhindert, der das Notizbuch, in dem sich die Gedichte befinden zerfetzt. Seine komplette private Gedichtsammlung, die scheinbar niemand zuhören bekommt wurde zerstört. Die einzigen, die Teile seiner Gedichte kennen, sind der Zuschauer und Paterson selbst. Der Zuschauer ist ständig bei der Entstehung seiner Gedichte dabei und hört ihrer Entwicklung zu, wenn sie mit der angenehmen Stimme von Adam Driver in Voice-over Szenen vorgetragen werden. Das Publikum teilt dieses intime Erlebnis mit Paterson, das er mit niemanden sonst zu teilen scheint. So entsteht eine innige Verbindung mit ihm. Viele Filme haben Probleme damit, eine solche enge Beziehung zum Protagonisten aufzubauen, was dem Film „Paterson“ mit Leichtigkeit gelingt.

Der Film „Paterson“ ist ein durchaus sehenswerter Film. Insbesondere das Drehbuch und die Dynamik zwischen den beiden Hauptdarstellern machen ihn zu einem unterhaltsamen Kinoerlebnis. Wer aber nicht zwei Stunden lang in einem Kinosaal sitzen möchte, ohne die nötigen aktionsreichen Höhepunkte, sollte einen großen Bogen um diesen Film machen.

Paterson (2016)
von Rüya Ince

Der junge Busfahrer Paterson fährt täglich mit seinem Bus in die gleichnamige Stadt Paterson. Dabei hört er sich die Unterhaltungen von den Menschen im Bus an. Ganz egal ob diese Studentinnen sind, die sich über einen bekannten Anarchisten der Stadt unterhalten oder zwei Männer, die mit ihren Eroberungen der letzten Nächte angeben. Er wacht jeden Tag um sechs Uhr neben seiner Frau auf und macht sich auf den Weg zur Arbeit. Kurz bevor er sich mit seinem Bus für einen neuen Arbeitstag in die Stadt aufmacht, schreibt er Gedichte. Jede Nacht geht er in seine Stammbar und plaudert mit anderen Kunden, während er sein Bier trinkt.

Der Film „Paterson“ blickt hoffnungsvoll in die Zukunft und schildert die Routine eines Alltags, der uns gar nicht so unbekannt vorkommt. Auch Paterson ist ein gewöhnlicher Mann mit einem durchschnittlichen Leben, der einer normalen Arbeit nachgeht und in seiner Freizeit Gedichte schreibt. Der Regisseur Jim Jarmusch zeigt uns durch seinen Film, dass jedes Leben in seiner eigenen Weise schön ist und in jedem Mensch ein Künstler steckt. Vom Dichter und Busfahrer Paterson bis zu seiner verträumten Frau Laura, die alles in ihrem Leben leidenschaftlich in schwarz-weißen Farben dekoriert und eine Country-Sängerin werden möchte. Die Hauptfiguren sind so natürlich, dass man sich als Zuschauer leicht in ihre Position hineinversetzen kann. Die Schauspieler leisten dabei eine ausgezeichnete Arbeit, um diese realitätsnahen und ehrlichen Figuren ins Leben zu rufen. Besonders zu loben sind die schauspielerischen Leistungen von Adam Driver (Paterson) und Golshifteh Farahani (Laura).

Jarmusch ist es sehr gut gelungen, die Kleinigkeiten im Leben einzufangen, die einem den Alltag verschönern. Alltägliche Konversationen und Begegnungen mit fremden Personen sorgen für herzwärmende Momente. Das Konzept der Liebe stellt Jarmusch vielseitig dar. Einerseits wird die Liebe von Paterson und Laura ohne die übliche Romantisierung von Hollywoodproduktionen dargestellt, andererseits zeigt der Film einen Stammkunden der Bar, der nicht akzeptieren möchte, dass seine Freundin ihn verlässt. Nicht nur schöne Erlebnisse, sondern auch die Enttäuschungen im Leben und den Willen, wieder neu anzufangen, finden im Film ihren Platz. Auch wenn während der gesamten Geschichte kaum Konflikte ausgetragen werden, schafft der Film spannend und äußerst unterhaltsam zu bleiben und bringt mit seinem natürlichen und unaufdringlichen Verständnis für Humor zum Lachen.

Jim Jarmusch über das Leben und die Kunst
von Arthur Brux

Das Leben Patersons ist wie so viele andere von Routine geprägt. Jeden Morgen erwacht er aufgrund seiner inneren Uhr, küsst seine Frau, frühstückt Cornflakes und chauffiert den restlichen Tag die Bürger einer Kleinstadt, welche seinen Namen trägt, mit dem Bus der Linie 23 durch den Tag. Nach der Arbeit dreht er seine tägliche Runde mit seiner englischen Bulldogge Marvin und genießt ein Bier in immer der selben Bar.

Sein Beruf ist sinnbildlich für die geordnete Zeit in der er lebt. Wie die Richtung seines Busses fährt auch sein Leben immer die selben Wege. Die Poesie scheint sein einziger Ausweg zu sein. Jede freie Minute verbringt er mit einem Stift an seinem Notizbuch und flieht in die Welt der Kunst, welche die einzige Möglichkeit ist den starren Alltag zu brechen.

Auch die Tage seiner Frau scheinen eine Wiederholung in einem Trott zu sein, mit dem sich längst abgefunden wurde. Laura lebt ihre Kreativität in der Gestaltung der Wohnung aus.
Jeder scheint von etwas zu träumen, sei es von der Liebe, einer Gitarre oder Zwillingen. Doch wir leben in einer Gesellschaft der Kompromisse. Anstatt der Zwillinge wird sich ein Hund angeschafft. Ihre Träume bleiben Träume und Patersons Worte bleiben Worte. Immer wieder zeigt Jarmusch die selben müden Begegnungen. Alle scheinen sie auf etwas zu warten, doch die Pistole schießt nur Schaumstoff und der Bus hat nur eine elektrische Panne, anstatt in einem riesigen Feuerball zu explodieren. Auch die Beziehung der beiden Protagonisten verläuft ohne Spannungsbogen. Es ist eine ruhige Liebesgeschichte, die aufgrund gegenseitiger Akzeptanz keine Konflikte zulässt. Diese Starrheit und Verweigerung der Handlung macht PATERSON zu einer art Antidrama.

Die Kunst dringt nicht in die von Starrheit verkalkte Welt, sie lebt lediglich in den Charakteren. Diese umhüllt jede Routine und jeden Misserfolg mit einem romantischen Schleier. PATERSON ist eine Liebeserklärung an die Liebe, das Kino und die Kunst.

Paterson
von Justin Schröder

Paterson der Name der Stadt in der sich der Film abspielt, der Name des Protagonisten, der Titel des epischen Gedichtes von William Carlos Williams und der Titel des Films. Jim Jarmuschs neuester Filmbeitrag bei dem er als Screenwriter und als Regisseur tätig war erzählt eine Woche im Leben eines Paares in der Stadt Paterson in New Jersey.
Im Zentrum des Films stehen Paterson der Busfahrer und seine Freundin Laura. Paterson der den gleichen Vornamen hat wie der Name der Stadt zeichnet sich dadurch aus, dass er jeden Tag die „quasi“ gleiche Routine durchläuft. Sein Tag ist nicht besonders aufregend und doch beobachtet Paterson sowohl kleine Details als auch größere Veränderungen, in seiner Freizeit schreibt er Gedichte in ein Heft welches er stets mit sich führt. Laura hingegen ist eine Künstlerin/Träumerin und auf einer gewissen Ebene das genaue Gegenteil von Paterson, sie macht jeden Tag etwas anderes, hat jeden Tag eine andere Idee oder ein neues Ziel. Beide Personen komplettieren jeweils die Andere in Aspekten in denen sie selbst Defizite haben und bilden zusammen ein funktionierendes Ganzes.
Das ruhige Tempo des Films und der Rythmus der von Paterson vorgelegt wird und sich trotz Unterbrechungen durch den ganzen Film zieht, evoziert bei einigen Zuschauern einen leichten Zustand meditativer Versenkung und Gelassenheit. In weiterer Folge kann man auch Lauras schwarze Kreise auf den Vorhängen als eine Hommage an die Kalligraphie Ensō verstehen, ein schwarzer Kreis der Leerheit und Vollendung repräsentiert und als eines der zentralen Symbole des Zen-Buddhismus fungiert.
Die Kameraeintstellungen unterstreichen öfters die Dualität der Personen, insbesondere das Spiel mit Licht und Schatten wird in längeren Sequenzen deutlich dargestellt.
Der Film ist in Wochentage eingeteilt und Paterson, der Poet, gibt uns an jedem Tag der Woche ein Gedicht oder Teile davon.
Der Film zeigt das Leben einer Person welches sich viele Leute in unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr vorstellen können, ein ruhiges und geregeltes Leben abseits von der Hektik, die uns im Alltag verfolgt. Die Szene in der offenbart wird, dass Paterson kein Smartphone und nicht einmal ein normales Handy hat scheint fast unrealistisch.
Jim Jarmusch gelingt mit Paterson ein Film der die Harmonie des Lebens darstellt, und der in unterschiedlichster Weise auf mehreren Ebenen diese Thematik angeht. Der Film schafft es einen Inhalt der sehr wohl trocken sein kann mit witzigen Elementen aufzufrischen, wie beispielsweise der Hund und andere Figuren die als „Comic relief“ dienen. Ein persönlicher Höhepunkt des Films war die sehr kurze Szene in der Clifford Smith aka. Method Man in dem Waschsalon seine „Lines“ für sein nächstes Projekt übt.

Immer wieder ein neuer Tag
von Leonora Peuerböck

Das Leben scheint eine Vielzahl von Tagen zu sein, die von einer aufgehenden und untergehenden Sonne begrenzt sind. Der Film zeigt uns Paterson, der diese Tage immer wieder aufs neue in seiner Routine durchlebt. Beginnend mit dem Aufwachen zur gleichen Zeit und endend mit einem Bier in der täglich selben Kneipe, bekommt diese Monotonie des Alltags auch für die ZuschauerInnen Gewohnheit. Wir bekommen Einblick in gewohnte Situationen, wie das im Bett liegen oder Patersons tägliches Essen der morgendlichen Frühstückflocken.
Die Tage scheinen routiniert, wie das Fahren des immer gleichen Weges, den Paterson jeden Tag, als Fahrer, mit dem Bus zurücklegen muss.
Doch scheint ihn dies keineswegs zu stören. Er wirkt gelassen und mit sich zufrieden, wenn er jeden Morgen aufs Neue aufsteht und nach der Arbeit den Briefkasten vor der Tür gerade richtet.
Jede freie Gelegenheit nutzt er um Gedichte zu schreiben. Der Film unterstreicht die Bedeutung dieser, indem er die Schriftzüge einblendet. Durch die dahingleitende Erzählung bekommt der Film selbst etwas Poetisches.
Den Gegenpol zu Patersons ruhigen Alltag bildet seine Freundin Laura. Während er seinen Bus den immer gleichen Weg fährt, wirkt sie ruhelos, sucht nach ihrer Verwirklichung im Backen von Cupcakes oder Gitarrespielen und gestaltet die Vorhänge der Wohnung neu. Ihre Lieblingsmuster sind gekennzeichnet durch die schwarz-weiße Gestaltung, die ihre innere Unruhe wiederzugeben scheint.
Der Film zeigt die Leben der beiden ProtagonistInnen als zwei sehr unterschiedliche, die jedoch auf ein Miteinander angewiesen sind und sich sehr gut ergänzen. So beschreibt Paterson seine Freundin als eine, die ihn sehr gut versteht.
Ästhetisch passt sich das Erzähltempo und die Gestaltung des Films sehr an den ruhigen Charakter des Protagonisten an. Es gibt keine Musik, dafür lange Aufnahmen.
Verspielte Großaufnahmen weisen auf Details hin, wie zum Beispiel das Muster auf Lauras Cupcakes oder die Luftblasen in einem Bierglas, die langsam nach oben steigen.
Es ist ein Film über das Sein und das Leben mit all seinen Gewohnheiten, die existieren dürfen ohne Langeweile zu erzeugen. Denn zwischen der Monotonie des Alltags, gibt es immer wieder Situationen, die hervorstechen. Sei es ein Kinobesuch oder das Gespräch mit einem jungen Mädchen, das auch Gedichte schreibt. Paterson zeigt die Liebe zwischen einer Künstlerin und einem Poeten, indem er einen Ausschnitt ihres Lebens als Film, fast wie ein Gedicht erzählt.

Paterson
von Vanessa Raiger

Samstag, der 22.10.2016 um 12.40 Uhr, Tag zwei der Viennale.
Menschenmassen versammeln sich im Eingangsbereich des Gartenbaukinos um das neueste Werk des Indie-Regisseurs Jim Jarmusch zu erleben. Drei ganze Jahre mussten die Anhänger des Filmemachers, dessen letzte Erscheinung die Vampir Romanze „Only Lovers left alive“ war, auf diesen Zeitpunkt warten.
12.50, die Pforten, die die Grenzen zur Welt des bewegten Bildes und des realen Alltages bilden, öffnen sich endlich und die Menge strömt in den Saal, um einen möglichst perfekten Platz zu ergattern.
12.58, eine kurze Ansprache eines Viennale-Mitarbeiters kündigt den Beginn des lang ersehnten audio-visuellen Kunstwerkes an.
13.00, der Vorhang öffnet sich, die Show kann beginnen.

Zeit. Sie wird nicht nur in der Einleitung als strukturelles Element verwendet, sondern bildet auch in dem Film „Paterson“ den Leitfaden der dramaturgischen Aufarbeitung. Diese vierte Dimension öffnet den Kanon eines Alltagstrotts, der das Leben des Protagonisten Paterson (Adam Driver), beschreibt. Aufgewachsen und geblieben, in der Stadt die den gleichen Namen wie die Hauptfigur trägt, wird der/die Rezipient/in auf eine Reise in das Leben von Paterson mitgenommen. Es ist ein entschleunigter Ausflug, auf den man den Busfahrer in seiner wöchentlichen Routine begleitet. Dabei bekommt der/die Zuschauer/in einen Einblick in seine Welt, deren Bewohner und eines unspektakulären, aber dennoch glücklichen, Lebens.

Jarmusch inszeniert eine wunderbare Ode an das Sein. Ein Sein, dass in der Einfachheit der Dinge besteht. Während dies in unaufdringlicher Manier von Paterson herangebracht wird, wirbelt als Kontrapart seine Frau Laura (Golshifteh Farahani) durch die Szenen. Wie ein Pinsel der die Ecken und Kanten eines zu strukturierten Bildes weicher zeichnet, fließt sie durch Patersons Routine und bringt durch ihre wahnwitzigen Ideen, beispielsweiße der Eröffnung eines Cupcake-Ladens, oder der Intention eine Countrysängerin zu werden, Schwung in ein fast schon tristes Dasein. Untermalt wird die Schönheit und Hingabe dieser Liebesbeziehung in den poetischen Ergüssen die Patersons Geist entspringen.

Visuell bietet der Film eine Poesie des Sehens die der Kameramann Frederick Elmes mit Überblenden von Oberflächen, und magischen Aufnahmen des örtlichen Wasserfalls kredenzt.

Es ist die Ruhe die den Film ausmacht. Omnipräsent ist der Minimalismus, die Setzung von Leerstellen, ob im Schauspiel oder der Ereignisse. Geht der/die Rezipient/in mit der Erwartung ins Kino, ein von Reizüberflutung gespicktes Spektakel zu erleben, ist er/sie mit „Paterson“ definitiv an der falschen Adresse. Doch sucht er eine Auszeit, einen Ort zum Denken und Reflektieren der großen, kleinen Gefühle und der Nichtigkeit übertriebener Gesten, so wird er/sie mit Jim Jarmuschs Werk einen neuen Freund in seiner/ihrer Kollektion von Filmen willkommen heißen.

Water fails
a film critical poem by ceskaaa

Paterson
is sitting on a bench
he writes in his secret notebook
about his life, his wife
who loves to draw
patter(n)s on
the wall
while the dog eats
his notebook

he follows the same
patter(n)s on
a daily basis
listens to people’s
patters on
his bus
when it fails
it does not explode
because this is
Paterson
and not Star Wars

his poems about
Paterson
do not rhyme
and it does not matter
but why, oh why this font?
this pictorial typo flaunt
simply destroys
the poetical film
Paterson

KATER. Klaus Händl (A, 2016)

v16kater03Bildquelle: (c) Viennale

Inhalt

Katzenfreunde, seid gewarnt, die titelgebende Samtpfote mag zwar die Menschendarsteller an die Wand performen, es nutzt ihr aber nichts. Sie gerät in die Beziehungskrise von Andreas und Stefan. Ein schwules Bessermittelstandspaar, schön und begabt und glücklich, wie man es eben aus Lifestyle-Magazinen kennt. Aber dann zerbricht etwas – und damit endet ihr Arkadien. Händl Klaus’ Zweitling hat viel von einem grausam-traurigen Kammerspiel, in dem Akte des Trosts und der Liebe sich abwechseln mit Akten der (Selbst)Zerfleischung, der Raserei. Großes Schauspielerkino! (c) Viennale

Kritiken

Kater als Liebestöter
von Lea Aigner

Der Kater Moses führt ein traumhaftes Leben. Ein großer Garten mit Auslauf, jeden Tag Futter und Leckerlies und Besitzer, die immer zum Kuscheln aufgelegt sind. Der gefleckte Kater ist der Inbegriff des Wohlstandes in dem das schwule Pärchen Andreas und Stefan lebt. Die beiden führen nämlich ein Leben, das man allgemein als den Inbegriff „der perfekten Beziehung“ betrachte kann. Ein traumhaftes Haus in den Weinbergen von Wien, viele Freunde, gute Jobs als Musiker und Disponent und das Ganze immer ummalt von klassischer Musik.

Schon in der Einstiegssequenz wird klar: Das Pärchen schreibt Liebe, Loyalität und Selbstlosigkeit ganz groß. Liebevoll kümmert sich Andreas um den kranken Stefan. Schwitzend, mit Fieber liegt der im Bett und wird mit Küssen und Salbei-Tee wieder ganz schnell gesund gepflegt. Dass sich nicht alle Probleme wie eine kurze Grippe wieder in Luft auflösen, wird ganz plötzlich und mit einer großen Wucht bewusst. Was eines Morgens am Frühstückstisch passiert, löst Entsetzen und Hysterie im Kinosaal aus. Andreas dreht dem Kater Moses den Hals um und bricht ihm das Genick. Plötzlich ist alles anders und die Beziehung nimmt eine dramatische Wende. Mit der Katze stirbt auch das gegenseitige Vertrauen. Schmerz und Trauer bleiben zurück. Ein Mord an einer Katze. Plötzlich fragt man sich: Ist das genug um die Beziehung von heute auf morgen weg zu schmeißen?

Der Regisseur Händl Klaus erzählt dabei mit einer enormen Intensität, wie das Paar mit dem Schmerz umgeht. Er arbeitet dabei sehr eindringlich mit dem immer wieder kehrenden Motiv der Katze. Denn selbst als Moses tot ist, kehrt der Schmerz in Form der Nachbarskatze immer wieder zurück. Die weiße Katze Kathi huscht dabei manchmal im Garten des Paares herum und später in ihrem Haus. Dabei wird klar wie lange es braucht um das Ereignis wieder aufzuarbeiten. Von Wutausbrüchen, Tränen und Fassungslosigkeit ist alles dabei. Gleichzeitig ist die Katze auch als Metapher für andere etwaige Probleme, die in Beziehungen entstehen können, zu sehen. Die Geschichte könnte sich so auch ums Fremdgehen drehen. „Kater“ behandelt die Problematik die vielen Paaren begegnet, die sich nach einem traumatischen Ereignis plötzlich gegenüber stehen und sich nicht mehr wiedererkennen. Händl Klaus macht seinen Zuschauern aber auch Hoffnung auf Versöhnung und Vergebung. Wie die Jahreszeiten vergehen und der Garten von Frühling zu Winter und wieder zurück wechselt, kann sich das Paar, wenn auch nur sehr langsam, wieder annähern. Schließlich können auch wieder Katzen gekrault werden und auf dem Parkett getanzt werden. Die Angst bleibt zwar vorhanden, aber die Beziehung scheint stärker zu sein. Ein schönes Ende, dass seinem Publikum trotz des drastischen Inhaltes, ein glückliches Happy-End-Gefühl vergönnt.

Über queere Filme
von Bernhard Frena

Was macht einen Film ‚queer‘ / was ist ‚queerer‘ Film? Diese Frage wird spätestens dann komplex, wenn man sich nicht nur auf eine narrative Ebene beschränkt, wenn queerer Film mehr bedeuten soll, als nur ein Film über queere Figuren. KATER (AUT 2016) ist ein Film über queere Figuren, über ein schwules Mittelstandspärchen um genau zu sein. Aber ist KATER auch ein queerer Film?
Ästhetisch reiht sich der zweite Film vom Händl Klaus zumindest nahtlos in das gängige Arthouse Programm ein. Eine klare, reduzierte Bildsprache. Lange Einstellungen mit gezielten Schnitten. Farben, die immer ein Tick zu ausgewaschen wirken. Nichts an dieser Ästhetik scheint besonders queer, scheint widerstrebend, widerständig zu sein. Es ist eine Ästhetik, die handwerklich hervorragend, mit Bedacht umgesetzt und angenehm anzusehen ist. Es ist eine gute Ästhetik. Aber es ist keine queere Ästhetik.
Doch was der Film ästhetisch nicht versucht, gelingt ihm vielleicht auf zwei anderen Ebenen: der Widerstand gegen normative Logiken des Mainstreams. Da wäre zunächst einmal der namensgebende Kater. Katzen und Film, das ist ja so eine Sache. Ob YouTube Videos oder Avantgarde Filme, dieses Tier hat es dem Apparat Kamera aus irgendeinem Grund angetan. Auch der Kater Moses (dargestellt vom Kater Toni) ist ständig im Fokus des Bildes. Bis er es eben irgendwann nicht mehr ist. Der Grund für das plötzliche Verschwinden des Tieres wird im Film nie gegeben. Was passiert ist klar, wird sogar explizit gezeigt. Warum es passiert klärt Händl allerdings nicht auf. Es bleibt das Rätsel im Kern des Filmes, ein Rätsel, das unnahbar scheint, das das Narrativ des Filmes aber letztlich am Laufen hält. Der Film widersetzt sich dabei den gängigen Logiken des Erzählkinos Taten bis aufs letzte zu psychologisieren oder anderweitig zu erklären.
Die andere Ebene bezieht sich auf den Umgang des Filmes mit queerer Sexualität. Während lesbischwulen Figuren auch in massentauglichen Filmen zunehmend Platz eingeräumt wird, haftet queerer Sexualität nach wie vor der Nimbus des Schamhaften, des Ekelhaften, des Versteckenswürdigen an. Dieser Diskurs zieht sich von einfachen Berührungen und Küssen, bis hin zu offensichtlicheren Darstellungen von Sex. Gleichermaßen gerät die Darstellung dieser sonst versteckten Akte dann häufig in ein Feld orgiastischer Voyeurismusspektakel – wie etwa in LA VIE D’ADÈLE (FRA 2013). In Kater ist die Sexualität von Stefan (Lukas Tutur) und Andreas (Philipp Hochmair) integrierter Bestandteil ihres Alltags. Sex ist etwas das passiert, das Teil des Tagesgeschehens ist. Ein wichtiger und angenehmer Teil, aber eben ein Teil. Es ist nicht etwas das speziell exponiert, ausgeleuchtet, choreographiert und arrangiert werden muss. Da ist ein Schwanz, da ist eine Hand, da ist ein Mund: Los geht’s! Und genauso zeigt Händl diese Sexualität auch, genauso wird sie von Tutur und Hochmair dargestellt.
Beide diese Momente sind nur beschränkt queer. Sie sind queer bezogen auf ganz bestimmte Diskurse, in denen sie sich bewegen und auf die sie referenzieren. In der sich ständig veränderten Diskurslandschaft des Filmes, werden sie es vermutlich bereits in Kürze diese Widerständigkeit, diese Queerness verlieren. Vielleicht ist KATER also kein queerer Film. Vielleicht ist er ‚nur‘ ein Film über queere Menschen und mit aktuell queeren Momenten. Jedenfalls ist er ein überaus einnehmender Film. Und für eine Sehempfehlung ist das ja mehr als genug.

Ein kurzer Moment; und alles ist anders.
von Susan Catherine Häußermann

Liebe, Leidenschaft und Musik bestimmen den Alltag von Stephan und Andreas, die gemeinsam mit ihrem zugelaufenen Kater Moses ein idyllisches Leben in den Weinbergen von Wien genießen. Das Musikerpärchen schätzt gutes, saisonales Essen, was zum größten Teil aus ihrem großen, paradiesischen Garten stammt und zelebrieren ihr Dasein auch gerne beim Konsum von ein paar Flaschen Wein zusammen mit ihren Freunden. Der neue Film Kater von Regisseur Klaus Händl mit Lukas Turtur und Philipp Hochmair in den Hauptrollen zeigt eine zunächst auf Vertrauen und Passion basierenden Liebesbeziehung, die schöner kaum sein könnte.
Moses, der Kater des Pärchens, ist bei fast allen Aktivitäten mit dabei und genießt die große Aufmerksamkeit, die er in Form von regelmäßigen Streicheleinheiten bekommt. Eine Katzenklappe, die sich in der Eingangstür des charmanten Hauses befindet garantiert ihm zudem ein Leben voller Freiheit und Abenteuer. Doch während eines Wochenendbrunchs verliert Stephan für einen Augenblick die Kontrolle über seine Impulse und tötet den geliebten Kater, der für beide schon längst ein Teil der Familie ist, plötzlich und scheinbar grundlos. Während Stephan seine Wut und Trauer über seine Tat lauthals auslebt, trauert Andreas zunächst im Stillen. Er kümmert sich sofort um die Leiche des Katers und vergräbt sie an einem ruhigen Plätzchen im Garten, den er selbst auf Nachfrage von Stephan niemals verraten würde. Zu tief ist er verletzt und zu groß ist das Misstrauen seinem Lebensgefährten gegenüber seit dieser Tat geworden. Es ist eine Millisekunde an Kontrollverlust, der das Leben der beiden verändert. An ihrem Arbeitsplatz, dem Wiener ORF-Symphonie Orchester, versuchen sich beide so normal wie möglich zu verhalten. Ihre berufliche Beziehung leidet nur unter der Oberfläche. Ihre Liebesbeziehung dagegen steht vor dem Aus. Der Umgang miteinander ist nicht mehr warm und verliebt, sondern kühl und getrübt. Dass das Risiko besteht, dass Stephan wieder die Kontrolle über sich verlieren könnte, ist in der Situation der beiden auch nicht gerade hilfreich.
Der Regisseur Klaus Händl kreiert mit seinem Film Kater eine rührende Geschichte, die u. a. durch die gute Schauspielleistung der Darsteller transportiert wird. Die meisten der Szenen sind ästhetisch inszeniert und wirken im Zusammenspiel mit den diegetischen sowie non-diegetischen musikalischen Untermalungen passend den jeweiligen dargestellten Situationen.

Was hält eine perfekte Liebe aus?
von Anonym

Andreas und Stefan, ein homosexuelles Paar, das in der Idylle eines Wiener Randbezirks lebt. Ihr Alltag ist gefüllt mit sexueller Leidenschaft, der Arbeit in einem Orchester und die bedingungslose Liebe zu ihrem Kater – Moses. Mit Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung haben sie offensichtlich nicht zu kämpfen, sie sind in einem harmonischen und unterstützenden Freundeskreis eingebettet, der ihr Leben noch perfekter macht. Alles machen sie gemeinsam: Stefan ist Musiker in besagtem Orchester und Andreas der Disponent, die Liebe zur Musik ist ein ebenso verbindender Faktor wie die Liebe zu ihrem Findelkater Moses. Gemeinsam Kräuter pflücken, kochen, Musik hören und sich auf der Couch liegend über dies und jenes unterhalten. Kurz gesagt – es ist das perfekte Leben, das sich viele wünschen. Als jener Kater völlig unerwartet von Stefan getötet wird –  was so schnell passiert, dass man gar nicht definieren kann ob es Absicht oder Unfall war – zerbricht die perfekte Welt, der perfekte Alltag und das perfekte Beziehungsleben der beiden.  Das ausgewogene Gleichgewicht zwischen Stefan und Andreas ist gestört und die Situation spitzt sich immer weiter zu.

Die Abbildung einer perfekten Partnerschaft liegt zu Beginn des Films im Vordergrund. Ohne Zweifel kann gesagt werden, dass die schauspielerische Leistung von Phillipp Hochmair und Lukas Turtur hierzu wesentlich, wenn nicht sogar ausschließlich, beiträgt. Auffallend lange Szenen beschreiben den Alltag der beiden, ob nun gekocht oder geliebt wird – diese Partnerschaft bildet den Kern des Films. Und natürlich der Kater, nicht zu vergessen. Sehr intensiv und leidenschaftlich zieht sich dieser Film dahin, bis der Höhepunkt alles umwirft und die Künstlichkeit in den Vordergrund rückt. Viele emotionale Szenen wirken maßlos überzeichnet, die Dramatik baut sich durch nicht nachvollziehbare Gründe auf. Der sonst so reif und vernünftig wirkende Andreas verhält sich trotzig, fast schon kindlich indem er einer Konfrontation mit Stefan aus dem Weg geht und ihn ignoriert. Es wirkt, als hätte der Regisseur das Grundgerüst dieses Films schon beschlossen gehabt und nach einem Höhepunkt gesucht, der das veränderte Verhalten der beiden Männer begründet. Wenn aus Tränen ein verzweifeltes Schluchzen wird, das in Schreien übergeht, fragt man sich ob es wirklich nur um den Tod dieses Katers oder vielleicht doch eher um die beiden selbst geht.

Was ist die Botschaft dieses Films? Ich habe lange überlegt und habe mich schließlich mit folgender Schlussfolgerung zufrieden gegeben: Das Leben kann nicht perfekt sein. Auch wenn es so scheint, wird es das nie sein. Es werden immer unerwartete Dinge passieren, die dir/mir/uns den Boden unter den Füßen wegziehen und das Leben so präsentieren, wie es ist – unperfekt.

Kater
von Dagmara Grudziadz

Steffan (Lukas Turtur) und Andreas (Phillip Hochmair) sind das Vorzeigepärchen einer Vorstadtidylle. Die beiden leben in einem wunderschönen Haus mit einem noch schöneren Garten in den Wiener Weinbergen. Zusammen genießen sie die klassische Musik, teilen sich den Arbeitsplatz, Steffan der Hornist, Andreas der Disponat bei der ORF- Radiosymponieorchester. Dazu kommen noch die gemeinsamen Freunde, die man selbstverständlich zu ausgelassenen Abenden zu sich nach Hause einlädt.
Zusammen ergeben sie ein wunderschönes Bild, verschmolzen fast zu einer Persönlichkeit. Und ob das Bild der beiden nicht so schön genug wäre, gibt es noch den Kater Moses, um den man sich noch liebevoller kümmert. Eine Perfektion, die fast unerträglich langweilig wirkt.
Und dann wenn man sich langsam an das Paradies gewohnt hat, zerstört ein kleiner, schmerzvoller Augenblick den Garten Eden.
Was darauf folgt, ist eine große Entfremdung der beiden Protagonisten. Eine große Leere und Verzweiflung machen sich breit in dem Paradies auf Erden. Das Pärchen und der/die ZuschauerInnen suchen vergeblich nach dem Sinn der Dinge. Händel lässt alle Antworten vergraben und konzentriert sich mehr auf die durch Gewalt zerrüttete Liebe. Andreas verschließt sich, will Abstand und kann die Nähe seines Partners kaum ertragen. Steffan ist verzweifelt und will alles im Griff kriegen. Sogar beim Zuschauen selbst will man die Kontrolle in die Hände nehmen und die beiden zur Vernunft zwingen.
Der Regisseur Klaus Händel , oder Händel Klaus, das hat er glaub ich lieber, erzählt uns in dieser Geschichte, dass nichts von Dauer ist. Und obwohl die öde Perfektion zerbrochen wird, wünscht man sich doch das Paradies wieder. Von da an wo die Hauptattraktion Moses, der Kater von der Bildfläche verschwindet, findet man nur zwei verloren Seelen, die im Kreis versuchen sich wiederzufinden.
Und obwohl die Geschichte ziemlich leblos dahin erzählt wird, können wir auf der Leinwand eine schöne Chemie der Hautdarsteller spüren. Turtur und Hochmair erzeugen eine wunderschöne Vertrautheit, die den Film ein wenig Echtheit verleiht. Dem Kater, der Moses, kann man ewig zuschauen. Händel lässt seine Bilder durch wunderschöne Musik erleben. Schafft einen Raum voller Kunst und Wärme. Und obwohl man sich durch die lang gezogenen Aufnahmen des Alltags durchquält, ertappt man sich dabei, dass man den beiden doch am Ende den Seelenfrieden wünscht.

Erwachen
von Leonora Peuerböck

Zwischen Musik und der Idylle des Alltags leben Stefan und Andreas mit ihrem Kater Moses, in einem Haus am Rande von Wien. Es scheint ein unbelastetes Leben zu sein, getragen von Geborgenheit und Liebe, eingebettet in einen starken Freundeskreis.

Das Paar arbeitet im gleichen Orchester und teilt sich auch sonst fast alles in ihrem Leben. Es ist nur die Gegenwart die zählt, das Hier und Jetzt der beiden Personen und des Katers.

Gerade am Anfang sind die Szenen von Helligkeit, Nacktheit und Gemeinsamkeit geprägt. Die beiden männlichen Körper scheinen beim Geschlechtsverkehr eins zu werden und ein vor Glück und Zufriedenheit strahlendes Paar abzugeben. Es braucht keine Sprache, um die Liebe der beiden in den langen Einstellungen des Films für die ZuschauerInnen verständlich zu machen.

Das ist die eine Seite des Films. Das wunderbare Leben, das Nichts aus den Fugen zu bringen scheint. Doch dieser Wunsch ist den Protagonisten nicht vergönnt. Durch einen wortwörtlichen Bruch verändert sich alles.

Es ist wie der Kater nach einer durchfeierten Nacht. Ein grausames Erwachen aus der scheinbaren Unantastbarkeit des Glücks in der Beziehung. Die Folgen sind nicht nur Schmerzen in Kopf und Herz, sondern vor allem das Infragestellen des eigenen Ichs.

Was sagt das über einen Menschen aus, wenn er Taten in die Realität umsetzt, die für andere bloße Hirngespinste sind. Kann diese mangelnde Impulskontrolle zurückkommen und eine solche Situation wieder auftreten?

Es ist auch die Frage nach der Identität der Personen, die auf einmal in den Mittelpunkt gerückt wird. Andreas muss Stefan fragen, wer er eigentlich ist. Zweifel, den anderen je gekannt zu haben treten in den Vordergrund. Ein enormer Vertrauensverlust macht sich breit, der von nun an den weiteren Film kennzeichnet. Von der Zufriedenheit des Anfangs, der geborgenen Atmosphäre, sind nur noch Bruchstücke vorhanden. Die Musik stellt noch immer eine wichtige Komponente dar, sie bietet Schutz, vielleicht auch Hilfe, die Beziehung wieder in Gang zu bekommen.

Nicht nur bei den Protagonisten, sondern auch bei den RezipientInnen macht sich das Unbehagen breit, dass wieder etwas passieren könnte.

Kater ist ein Film über die Liebe, die auf die Probe gestellt wird. Was passiert, wenn ein Schatten an die Oberfläche kommt, von dem man bisher noch nichts geahnt hat. Kann eine Beziehung Bestand haben auch wenn sie in ihren Grundfesten erschüttert wird? Und wie ändert sich der Umgang zwischen zwei Personen von einem so liebevollen zu einem zweifelnden, auf Abstand haltenden.

Diesen und noch mehr Fragen versucht der Film in seiner Vertrauen schaffenden Ästhetik auf den Grund zu gehen.

„Kater“
von Rüya Ince

In einem schönen, großen Haus, wo das Liebespaar Stefan (Lukas Turtur)  und Andreas (Philipp Hochmair) lebt, läuft oft klassische Musik, zu der die beiden gerne tanzen und darüber diskutieren. Die zwei, die sich auch ein berufliches Umfeld teilen, laden außerdem gerne Freunde zum Essen ein, welches sie mit dem eigenen Gemüse und Früchten aus dem Garten zubereitet haben. Sie zeigen ihre Liebe zueinander gerne durch romantische Gesten und kümmern sich auf­op­fernd umeinander. Das vielleicht bedeutendste Wesen im Leben dieser beiden Menschen ist aber ihr ehemals geretteter Kater namens Moses. Moses kuschelt gerne mit seinen Besitzern, sonst entdeckt er gerne neue und alte Gegenstände im Haus und kleine Tiere im Garten.

Eines Tages führt eine impulsive, unkontrollierte Handlung zur Auflösung dieses Paradieses der trauten Zweisamkeit. Der Grund des Vorfalls ist für den Film „Kater“ weniger interessant als was das in der Beziehung der beiden Männer zueinander verändert. Auf einmal, sind sie zwei fremde Menschen, die zwar im selben Haus wohnen, aber kaum noch ein Wort mehr miteinander wechseln. Der Film stellt den Zuschauer_innen die Frage, wie eine Beziehung vorangehen soll, wenn die Vertrauensbasis, auf der die Beziehung aufgebaut ist, plötzlich gestört wird.

Dargestellt werden im Film vor allem die Emotionen der beiden Männer, wie sie mit Gefühlen wie Trauer und Reue unterschiedlich umgehen und versuchen, trotz der harten Umstände ihre Liebe zueinander zu retten. Es ruht eine große Verantwortung auf den Schultern der beiden Schauspieler, die aber mit ihren überzeugenden schauspielerischen Leistungen den Film tragen und dafür sorgen, dass das Interesse bis zum Schluss nicht abreißt.

Kater
von Lisa Eckerstorfer

Der Spielfilm „Kater“ ist ein leidenschaftliches und emotionales Liebesdrama des Tiroler Regisseurs Händl Klaus. In den Hauptrollen die beiden Theaterschauspieler Lukas Turtur und Philipp Hochmair als Stefan und Andreas. Gemeinsam mit ihrem geliebten Kater Moses lebt das Paar nahe der Wiener Weinberge. Die beiden teilen sich nicht nur Haus und Garten, sondern auch den Arbeitsplatz und die Begeisterung für Musik. In ihrem gemeinsamen Freundeskreis gelten sie als das Vorzeigepärchen. Turtur und Hochmair stellen auf der Leinwand gefühlsvoll und überzeugend eine harmonische Beziehung zwischen zwei Männern dar und teilen mit den Zuseher/innen sehr intime Momente.

Stefans Gewaltausbruch gegenüber Moses eines Morgens am Frühstückstisch wird zum drastischen Wendepunkt in der Beziehung und das ungezwungene, naturalistische Schauspiel kippt in ein dramatisches Liebeschaos. Die Leichtigkeit und Unbekümmertheit, die sich durch die erste Hälfte von „Kater“ ziehen, weicht der ständigen Angst und Anspannung, Stefan könnte abermals die Kontrolle verlieren. Entfremdung und Skepsis lösen das unerlässliche Vertrauen ab und die Frage, ob ein weiteres Zusammenleben, nach einem Vorfall wie diesem,  überhaupt noch funktionieren kann, rückt in den Mittelpunkt. Der Schmerz und das Misstrauen bauen sich wie eine unsichtbare Wand zwischen Stefan und Andreas auf und scheinen einen Neubeginn unmöglich zu machen. Immer wieder erfolgen Annäherungsversuche sowie Bemühungen den anderen zu verstehen. Eine Problematik, die die beiden nicht nach außen tragen, sondern untereinander zu lösen versuchen.

Lange Kameraeinstellungen innerhalb einer Szene und Großaufnahmen der Protagonisten lassen die Zuseher/innen an Stefans und Andreas Beziehung teilhaben und die Empfindungen und Gefühle der beiden miterleben. Der zärtliche Umgang miteinander und der gegenseitige Respekt, die in eine kühle Distanz und in eine innere Zerrissenheit umschlagen, gehen direkt unter die Haut. „Kater“ reißt das Publikum mit in das emotionale Gefühlschaos von Stefan und Andreas und offenbart die dunklen und verletzlichen Seiten in jedem von uns.

Die Grenzen der Liebe
von Martin Knuhr

„Kater“ zeigt die Himmelhöhen und Todestrübsale einer großen Liebesgeschichte, ohne die Komplexität der Gefühle aus den Augen zu verlieren.

Es gibt Momente, die das Bild von einem Menschen, den wir zu kennen glauben, in seinen Grundfesten erschüttern. Und manchmal haben sie etwas mit einem Kater zu tun. Händl Klaus‘ nach besagtem Stubentiger betitelter Spielfilm beginnt wie ein fleischgewordener Bobo-Katalogtraum. Andreas und Stefan führen eine beschauliche, liebevolle Partnerschaft in den Weinbergen bei Wien. Ein geschmackvoll eingerichtetes, einladendes Haus und Pflaumen aus dem eigenen Garten, viele kultivierte Freunde und spannende, musikalische Berufe beim ORF-Radiosymphonieorchester lassen keine Wünsche offen, außer vielleicht, doch endlich mal Mahlers Sechste spielen zu dürfen. Kater Moses vervollkommnet dieses Idyll aus materiellem Wohlstand und feingeistiger Betätigung. Klaus zeigt die Liebenden als perfektes Paar, das morgens nebeneinander aufwacht, auch im Berufsleben aufeinander bauen kann und abends einander mit steifen, im Takt von sanftem Jazz wippenden Schwänzen umtanzt.

Umso unerwarteter ist der explosive Gewaltakt, der sich plötzlich eines Tages am Frühstückstisch zuträgt. So völlig aus dem Nichts kommt er, dass die überraschten Ausrufe im Kinosaal in hartem Kontrast zur Sprachlosigkeit der Protagonisten steht, deren Beziehungsglück nun von Grund auf infrage gestellt wird. Wo vorher die Sonne auf die Katzenminze schien, ziehen nun Wolken und Schatten ins Bild und die zuvor freizügig nackten Körper verschwinden unter einer Hülle aus Kleidung, Vorwürfen, Selbstzweifeln, Verzweiflung und (Verlust)Angst. Andreas und Stefan sehen sich mit grundlegenden, alles verändernden Fragen konfrontiert. Wie ist dem Anderen, dem Fremden im Geliebten, der doch auch Spiegel des eigenen Selbst sein soll, zu begegnen? Was kann Liebe überstehen? Gelingt es, ein traumatisierendes Erlebnis zu verarbeiten und daran gemeinsam zu wachsen? Händl Klaus und seinen Hauptdarstellern gelingt ein quälender Blick auf eine Extremsituation, in der das Vertrauen in die engste Bezugsperson in Frage gestellt wird. Die vielfältigen Stadien der Bewältigung solchen Schreckens gehen organisch ineinander über und werden bis an den Rand des ertragbaren ausgehalten. Stefans und Andreas langsame Annäherung, ihre Verbitterung und Sehnsucht werden zu einer Tour de Force für den Zuschauer, die in ihrer Anhäufung von Schicksalsschlägen schließlich ein wenig über das Ziel hinausschießt. Ein geradezu biblisch anmutendes Moment von „Auge um Auge“ (im wahrsten Sinne des Wortes) wirkt unnatürlich dramatisiert und der bis dato gehaltenen Natürlichkeit von Schauspiel und Narration befremdlich enthoben, was die bis dahin feinfühlige Behandlung der komplexen Dilemmata von „Kater“ jedoch nicht maßgeblich schmälert.

Kater – ein Liebesfilm.
von Anonym

Als RezipientInnen begleiten wir das intime Leben des Paares Stefan, Andreas und ihres Katers, Moses. Zu Beginn des Filmes zeigt er uns eine liebevolle und glückliche Beziehung. Die Nacktheit spielt dabei eine wesentliche Rolle, da sie als Repräsentant für die innige Nähe zwischen den zwei Protagonisten angesehen werden kann. Durch die Kamera werden die ZuseherInnen in eine vo­yeu­ris­tische Position versetzt, da sie, als stiller Beobachter, bei den sexuellen Handlungen des Paares anwesend ist und so einen unmittelbaren Blick auf das Geschehen zeigt. Mit der selben Achtsamkeit und Ästhetik, mit der Stefan und Andreas filmisch inszeniert werden, erfolgt dies genauso bei dem dritten Hauptcharakter: Moses. Auch ihm folgen wir als ZuseherInnen bei seinen alltäglichen Beschäftigungen. Plötzlich vergeht durch eine unerwartete Tat alle Idylle und führt zu großer Trauer. Stefan konnte seinen Impuls nicht steuern und verliert die Kontrolle über sein „Ich“. Sein Verhalten verändert alles, was man vorher für beständig hielt und zeigt die dunklen und unschönen Facetten von Menschen und Beziehungen auf. Wie funktioniert die eigene Psyche? Warum können Impulse auf einmal nicht mehr reguliert werden? Wie fühlt es sich an, wenn man sich nicht auf sich selbst verlassen kann? Kann man seinem Partner jemals wieder vertrauen?

Alle diese Frage und noch mehr, verhandelt der Film ab diesem Handlungsumbruch. Die RezipientInnen werden Teil eines Beziehungsdramas, dessen Auslöser auch ein anderer hätte sein können, da es hauptsächlich um den Umgang mit Vertrauensbruch geht. Beide Figuren verhalten sich in dieser Krise realitätsnah. Die Distanz und das Gefühl von Zerrüttung wird unter anderem durch das tragen von Kleidung visualisiert. Die zuvor so bedeutsame sexuelle Beziehung zwischen den Charakteren wird durch die emotionalen Folgen erschüttert. Durch einen Unfall wird Stefan verletzt. Andreas, der zuvor nach großem Abstand suchte, eilt ihm besorgt zur Hilfe. Diese Situation gibt den erstem Impuls zur Versöhnung des Paares. Obwohl sich Stefan einer Therapie unterzieht, bleibt bei seinem Partner und den RezipientInnen ein mulmiges Gefühl im Magen zurück: Wird sich eine solche Tat wiederholen? Langsam und in nachvollziehbaren Schritten, findet das Paar letzten Endes wieder zueinander. Was bleibt, ist die Ungewissheit, die nach wie vor spürbar ist. Wird sie jemals gänzlich vergehen? Kater führt seine ZuseherInnen vor eine schwierige Situation, die zeigt, dass sich die Welt nicht nur in binären Mustern denken lässt. Es ist das „grau“, das dieser Film zeigt und somit den problematischen Zwiespalt des menschlichen Verhaltens realitätsgetreu verhandelt.

Solange es dem Kater gut geht
von Julia Philomena Baschiera

Liebestrunken und splitternackt schweben Alexander und Stefan durch das gemeinsame Wohnzimmer, während Miles Davis im Hintergrund den passenden Soundtrack dazu liefert. Nachdem die CD ausgelaufen und naturalistische Stille eingekehrt ist, flüstern die beiden einander „Ich liebe dich“ zu. Ein kurzes Intermezzo, bevor zwei Körper wieder zu einem verschmelzen. Die Welt könnte draußen untergehen und sie würden es nicht merken.

„Man kann sich nicht vorstellen, wie schamhaft die meisten Schauspieler sind. Als hätten die alle kein Geschlecht. Die allerwenigsten begreifen ihren Körper als Werkzeug, als ganz selbstverständliches Ausdrucksmittel. Es war eine ewige Suche, bis ich endlich dieses Paar hatte“, so der österreichische Autor und Regisseur Händl Klaus in einem Interview mit dem ORF. „Kater“ ist nach acht Jahre langer Pause der neueste Spielfilm des Tirolers und feierte am 13. Februar 2016 im Zuge der Internationalen Filmfestspiele Berlin seine Premiere.

Alexander ist als Disponent für das Radio-Symphonieorchester Wien tätig und Stefan als einer seiner Hornisten. Die besten Freunde sind allesamt Ensemble-Mitglieder, die Nachbarn liebevoll, das Haus gepflegt und voller Kunstwerke, der Garten groß und herrlich grün. Sie leben für die Musik und ihre großen Meister, für die gemeinsame Liebe und ihren Kater, der von beiden wie das eigene Kind behandelt wird.

Liebe kann perfekt, vollendet, gegenseitig und dauerhaft sein. Ein außerordentlich beneidenswerter Zustand, meinte einmal Michel Houellebecq. Und paradoxerweise erregt eine solche Liebe keinerlei Eifersucht. Sie verursacht auch kein Gefühl des Ausgeschlossenseins. Sie ist einfach. Und zugleich darf auch alles andere sein.

Um genau so eine Liebe scheint es sich bei Alexander und Stefan zu handeln – bis zu jenem Moment, als der Hornist eines harmonischen Morgens durch eine Gewalttat innerhalb einer Sekunde alles vernichtet zu haben scheint, was als unverwüstlich galt.

Von diesem Zeitpunkt an tritt die Musik in den Hintergrund und das Schweigen, die Stille dominieren. Suspense und Irritation beherrschen die zweite Hälfte des Films, Angst und vor allem Liminalität, jener Schwellenzustand, in dem die vertrauten Sozialstrukturen nicht mehr existieren. Die Beziehung verträgt kein Gespräch mehr, keine Berührung. Alexander weiß nicht, ob er jemals wieder mit Stefan schlafen kann. Da ist kein gemeinsames Innenleben mehr, keine Leidenschaft, keine Wärme, nur zwei leere Körper in einem großen Raum.

Der Film wirft die Frage auf, inwiefern man seinen Partner wirklich kennt, oder kennen lerne möchte. „Kater“ zeigt, in welche menschlichen Krater man durch eine Lebensgemeinschaft hineingerissen werden kann und wie viel Liebe aushält, um gemeinsam vielleicht wieder nach oben zu steigen. Selbst dann, wenn vorerst auch Miles Davis nicht mehr helfen kann.

Was ist eigentlich Liebe?
von Jan Lamprecht

Die Frage danach was denn genau Liebe sei lässt sich schwer beantworten. Die meisten hätten für die Liebe am liebsten eine Maßeinheit, um sie besser zu beschreiben. Klaus Händl versucht in seinem neuen Film „Kater“ eine solches Maßeinheit zu geben.

Das Paar Andreas (Lukas Turtur) und Stefan (Philipp Hochmair) leben zusammen mit ihrem Kater Moses in einem eigenen Haus. Turtur und Hochmair geben auf der Leinwand ein ausgezeichnetes Paar mit einer tollen Chemie ab. Sie scheinen perfekt miteinander zu sein und leben in einer fast utopischen Harmonie zusammen, bei der man quasi nur noch auf den Hammerschlag wartet. Die Zuschauer begleiten das Paar in langen Einstellungen bei ihrem Alltag, den sie am liebsten nackt und mit ihrem Kater Moses verbringen. So verläuft die erste Hälfte des Filmes relativ ereignislos, bis es plötzlich und unmittelbar zum Hammerschlag kommt. Stefan sitzt essend am Tisch während ihm Kater Moses Gesellschaft leistet. Plötzlich bricht Stefan aus einem Impuls heraus dem Kater das Genick. Es wird nicht klar, ob es in diesem Moment einen Grund für das Handeln von Stefan gab, ob ihn der Kater gekratzt oder gebissen hat und es sich somit um einen Reflex gehandelt hat. Nach dem Höhepunkt zeichnet sich in der zweiten Hälfte das Motiv des Filmes ab, dem was Liebe ausmachen sollte.

An Stelle des toten Katers, hätte sich auch etwas anderes ereignen können, das die Beziehung der Beiden vor eine Zerreißprobe stellt. So stellt sich der Zuschauer nunmehr die Frage, ob  die Beziehung von Andreas und Stefan stark genug ist, um die Hürde zu überwinden, die in der Form eines toten Kater vor ihnen liegt oder ob die Beziehung daran zerbricht. Obwohl es ein langwieriger Weg ist, gibt der Film in der letzten Sequenz die Antwort, ja, die Beziehung zwischen den Beiden war tatsächlich stark genug.

Klaus Händl scheint seine persönliche Vorstellung von wahrer Liebe auf den Film zu projezieren. Zu dieser Vorstellung gehört eben auch, das Überwinden von gravierenden Differenzen und das Anerkennen von Eigenschaften an dem Partner, die sich vielleicht erst nach einiger Zeit erkennen lassen.

Neben der Thematik der Beziehung und der Überwindung der Hürde, schneidet der Film viele verschiedene Themenbereiche an. Dabei bleibt es allerdings nur beim Anschneiden und mögliche andere Handlungsstränge werden gleich wieder fallen gelassen. So kratzt der Film meistens nur an Oberflächlichkeiten und geht nicht bestimmter auf diese ein.

Vom Festhalten an der Liebe
von Ece Isil Sahin

Andreas und Stefan sind in KATER das Vorzeigepaar schlechthin. Nicht nur nach außen hin scheinen die beiden schwerverliebt, auch ist ihr Privatleben geprägt von Zärtlichkeit und einem liebevollen Miteinander. Bei Freunden und Nachbarn gleichermaßen beliebt, sind die beiden oft Gastgeber ausufernder Dinnerpartys in ihrem großzügigen Haus mit dicht bewachsenem Garten am Rande Wiens. Dort leben sie mit Kater Moses, dem dritten Herrn im Bunde. Um ihn wird sich aufmerksam gekümmert, Streicheleinheiten kommen nie zu kurz und sogar die Stuhlkissen haben eine eigene Katerseite. In ihrem unbelasteten Alltag scheint es den beiden Männern also an nichts zu fehlen. Ihr musikalischer Beruf ist Profession und Leidenschaft zugleich, welche sie mit ihren Arbeitskollegen, die gleichzeitig auch die engsten Freunde sind, teilen. Das Leben ist entspannt und voller Glück.

So weit, so idyllisch. Wie gern würden wir uns als Zuschauer weiterhin von diesem scheinbar perfekten Leben einlullen lassen. Doch Händl Klaus hat mit seinem Film etwas ganz anderes vor. Es beginnt eine Szene, so ruhig und friedlich wie ein Harfenspiel, doch plötzlich geschieht etwas Unvorhersehbares. Stefan, am Frühstückstisch sitzend, streichelt Kater Moses und bricht ihm aus heiterem Himmel mit einem Ruck das Genick. Der Kater schreit noch auf und fällt in der nächsten Sekunde tot auf den Tisch. Nicht nur Andreas, der just in diesem Moment im Türrahmen steht ist starr vor Schock, auch die Zuschauer sind völlig perplex. Wieso hat Stefan das Tier getötet? Hat der Zuschauer etwas übersehen, das Tier ihn vielleicht gebissen und er aus Reflex gehandelt? Nein. Schnell stellt sich heraus, dass der Tötungsimpuls von Stefan ausging. Den restlichen Film hinweg stellt man sich also nur diese eine Frage: Wieso? Doch der Grund für den Akt bleibt bis zum Ende hin ungelöst. Der Film gibt keine direkte Antwort auf diese Frage und versucht auch weitestgehend nicht die Tat zu psychologisieren. Von diesem Wendepunkt an jedoch, ist die Leichtigkeit aus Andreas und Stefans Leben verschwunden und mit ihr die Nähe und das Vertrauen.

Nach außen hin lassen sich die beiden kaum etwas anmerken, denn wie soll man seinen Freunden auch erklären, dass der geliebte Partner scheinbar grundlos das eigene Haustier getötet hat? Wo die Sprache abhanden kommt, muss bei Händl Klaus die Musik her und wenn das nicht mehr reicht, dann eben die Fäuste. Andreas’ Schock verwandelt sich somit zunächst in die Angst vor dem eigenen Partner, später in Fassungslosigkeit, diese in Wut und schließlich in den Versuch das Geschehene zu verstehen.

So beginnt die Kamera am Ende wieder vorsichtig zu tänzeln, nähert sich den Protagonisten, welche sich eng umschlungen langsam im Kreis drehen, wie um zu sagen: das Leben dreht sich weiter, also halte an deiner Liebe fest.

Über queere Filme
von Bernhard Frena

Was macht einen Film ‚queer‘ / was ist ‚queerer‘ Film? Diese Frage wird spätestens dann komplex, wenn man sich nicht nur auf eine narrative Ebene beschränkt, wenn queerer Film mehr bedeuten soll, als nur ein Film über queere Figuren. Kater (AUT 2016) ist ein Film über queere Figuren, über ein schwules Mittelstandspärchen um genau zu sein. Aber ist Kater auch ein queerer Film?

Ästhetisch reiht sich der zweite Film vom Händl Klaus zumindest nahtlos in das gängige Arthouse Programm ein. Eine klare, reduzierte Bildsprache. Lange Einstellungen mit gezielten Schnitten. Farben, die immer ein Tick zu ausgewaschen wirken. Nichts an dieser Ästhetik scheint besonders queer, scheint widerstrebend, widerständig zu sein. Es ist eine Ästhetik, die handwerklich hervorragend, mit Bedacht umgesetzt und angenehm anzusehen ist. Es ist eine gute Ästhetik. Aber es ist keine queere Ästhetik.

Doch was der Film ästhetisch nicht versucht, gelingt ihm vielleicht auf zwei anderen Ebenen: der Widerstand gegen normative Logiken des Mainstreams. Da wäre zunächst einmal der namensgebende Kater. Katzen und Film, das ist ja so eine Sache. Ob YouTube Videos oder Avantgarde Filme, dieses Tier hat es dem Apparat Kamera aus irgendeinem Grund angetan. Auch der Kater Moses (dargestellt vom Kater Toni) ist ständig im Fokus des Bildes. Bis er es eben irgendwann nicht mehr ist. Der Grund für das plötzliche Verschwinden des Tieres wird im Film nie gegeben. Was passiert ist klar, wird sogar explizit gezeigt. Warum es passiert klärt Händl allerdings nicht auf. Es bleibt das Rätsel im Kern des Filmes, ein Rätsel, das unnahbar scheint, das das Narrativ des Filmes aber letztlich am Laufen hält. Der Film widersetzt sich dabei den gängigen Logiken des Erzählkinos Taten bis aufs letzte zu psychologisieren oder anderweitig zu erklären.

Die andere Ebene bezieht sich auf den Umgang des Filmes mit queerer Sexualität. Während lesbischwulen Figuren auch in massentauglichen Filmen zunehmend Platz eingeräumt wird, haftet queerer Sexualität nach wie vor der Nimbus des Schamhaften, des Ekelhaften, des Versteckenswürdigen an. Dieser Diskurs zieht sich von einfachen Berührungen und Küssen, bis hin zu offensichtlicheren Darstellungen von Sex. Gleichermaßen gerät die Darstellung dieser sonst versteckten Akte dann häufig in ein Feld orgiastischer Voyeurismusspektakel – wie etwa in La Vie D’Adèle (FRA 2013). In Kater ist die Sexualität von Stefan (Lukas Tutur) und Andreas (Philipp Hochmair) integrierter Bestandteil ihres Alltags. Sex ist etwas das passiert, das Teil des Tagesgeschehens ist. Ein wichtiger und angenehmer Teil, aber eben ein Teil. Es ist nicht etwas das speziell exponiert, ausgeleuchtet, choreographiert und arrangiert werden muss. Da ist ein Schwanz, da ist eine Hand, da ist ein Mund: Los geht’s! Und genauso zeigt Händl diese Sexualität auch, genauso wird sie von Tutur und Hochmair dargestellt.

Beide diese Momente sind nur beschränkt queer. Sie sind queer bezogen auf ganz bestimmte Diskurse, in denen sie sich bewegen und auf die sie referenzieren. In der sich ständig veränderten Diskurslandschaft des Filmes, werden sie es vermutlich bereits in Kürze diese Widerständigkeit, diese Queerness verlieren. Vielleicht ist Kater also kein queerer Film. Vielleicht ist er ‚nur‘ ein Film über queere Menschen und mit aktuell queeren Momenten. Jedenfalls ist er ein überaus einnehmender Film. Und für eine Sehempfehlung ist das ja mehr als genug.

Ein kurzer Moment; und alles ist anders.
von Anonym

Liebe, Leidenschaft und Musik bestimmen den Alltag von Stephan und Andreas, die gemeinsam mit ihrem zugelaufenen Kater Moses ein idyllisches Leben in den Weinbergen von Wien genießen. Das Musikerpärchen schätzt gutes, saisonales Essen, was zum größten Teil aus ihrem großen, paradiesischen Garten stammt und zelebrieren ihr Dasein auch gerne beim Konsum von ein paar Flaschen Wein zusammen mit ihren Freunden. Der neue Film Kater von Regisseur Klaus Händl mit Lukas Turtur und Philipp Hochmair in den Hauptrollen zeigt eine zunächst auf Vertrauen und Passion basierenden Liebesbeziehung, die schöner kaum sein könnte.

Moses, der Kater des Pärchens, ist bei fast allen Aktivitäten mit dabei und genießt die große Aufmerksamkeit, die er in Form von regelmäßigen Streicheleinheiten bekommt. Eine Katzenklappe, die sich in der Eingangstür des charmanten Hauses befindet garantiert ihm zudem ein Leben voller Freiheit und Abenteuer. Doch während eines Wochenendbrunchs verliert Stephan für einen Augenblick die Kontrolle über seine Impulse und tötet den geliebten Kater, der für beide schon längst ein Teil der Familie ist, plötzlich und scheinbar grundlos. Während Stephan seine Wut und Trauer über seine Tat lauthals auslebt, trauert Andreas zunächst im Stillen. Er kümmert sich sofort um die Leiche des Katers und vergräbt sie an einem ruhigen Plätzchen im Garten, den er selbst auf Nachfrage von Stephan niemals verraten würde. Zu tief ist er verletzt und zu groß ist das Misstrauen seinem Lebensgefährten gegenüber seit dieser Tat geworden. Es ist eine Millisekunde an Kontrollverlust, der das Leben der beiden verändert. An ihrem Arbeitsplatz, dem Wiener ORF-Symphonie Orchester, versuchen sich beide so normal wie möglich zu verhalten. Ihre berufliche Beziehung leidet nur unter der Oberfläche. Ihre Liebesbeziehung dagegen steht vor dem Aus. Der Umgang miteinander ist nicht mehr warm und verliebt, sondern kühl und getrübt. Dass das Risiko besteht, dass Stephan wieder die Kontrolle über sich verlieren könnte, ist in der Situation der beiden auch nicht gerade hilfreich.

Der Regisseur Klaus Händl kreiert mit seinem Film Kater eine rührende Geschichte, die u. a. durch die gute Schauspielleistung der Darsteller transportiert wird. Die meisten der Szenen sind ästhetisch inszeniert und wirken im Zusammenspiel mit den diegetischen sowie non-diegetischen musikalischen Untermalungen passend den jeweiligen dargestellten Situationen.

CERTAIN WOMEN. Kelly Reichardt (USA, 2016)

v16certain01Bildquelle: (c) Viennale

Inhalt

Mit großen Stars zu drehen und dabei wie in einem Independent-Movie zu verfahren, diese Chuzpe haben im zeitgenössischen US-Kino nur wenige. Kelly Reichardt ist unter diesen die unbestrittene Meisterin. In ihrem neuen Film erzählt sie episodisch von vier Frauen im ländlichen Oregon, deren zugleich alltägliche und alttestamentarische Schicksale auf untergründige Weise miteinander verwoben sind. Die wunderbare Laura Dern, die subtile Michelle Williams, die stille Kristen Stewart und die vielleicht berührendste unter ihnen, die eigensinnige Lily Gladstone, machen CERTAIN WOMEN zu einem herausragenden Kinoereignis. (c) Viennale

Kritiken

Kalte Einsamkeit
von Jan Lamprecht

Ein hochkarätiger Cast, eine ambitionierte Regisseurin, drei Geschichten rund um eine Stadt in Montana und ständige Einsamkeit. Die Regisseurin Kelly Reichardt greift in „Certain Woman“ auf eine episodische Erzählstruktur zurück, in der drei verschiedene Storylines erzählt werden, die sich im Laufe des Films miteinander überschneiden.  Dieses Modell ist nicht neu und war schon in Filmen wie „Magnolia“ oder „L.A Crash“ zu sehen. Der Unterschied zu diesen Filmen, die auch mit einer episodischen Erzählung gearbeitet haben, ist, dass kein Gerüst aus Gegebenheiten entsteht, die Einfluss aufeinander nehmen. Mit der Erwartungshaltung des Zuschauers, dass durch die episodischen Geschichten ein gesamter Zusammenhang am Ende klar wird, wird gebrochen. Man hat lediglich das Vergnügen zu sehen, wie es ist die Hauptdarstellerin aus einem anderen Handlungsstrang, als Statistin im Hintergrund vorbeilaufen zu sehen.

Somit überschneiden sich die Handlungsstränge nicht auf einer Ebene des Geschehens, sondern auf einer anderen Ebene und zwar auf einer inhaltlichen. Das Überkreuzen von Geschehen wurde auf das Überkreuzen bestimmter Handlungsmuster verschiedener Charaktäre umgewälzt. Alle vorkommenden Charaktäre scheinen mit ihrer Einsamkeit zu kämpfen, sei es am Ende die Anwältin, die ihren Client im Gefängnis besucht und ihm versprechen muss ihm zu schreiben oder der Farmerin, die während dem Fahren einschläft von der Straße abkommt und dann alleine auf einem Feld steht. Sie alle scheinen dagegen anzukämpfen alleine zu sein und so kommt es in allen Handlungssträngen zu ähnlich unbeholfenen Annäherungsversuchen in den verschiedensten Situationen, bei denen man in manchen Fällen auch von zwischenmenschlichen Versagen sprechen könnte.

Bei den drei Handlungssträngen steht hauptsächlich immer eine Frau oder zwei Frauen im Mittelpunkt. Es werden Frauen gezeigt, die versuchen ein emanzipierte und unabhängiges Leben zu führen. Dabei werden auch immer mal wieder dezent Genderfragen aufgeworfen, wenn zum Beispiel ein Mann an der beruflichen Kompetenz seiner Anwältin zweifelt.

Kelly Reichardt zeigt einen Film, in dem es trotz einer Geiselnahme nie laut wird und das Geschehen immer ruhig und überschaubar bleibt und konzentriert sich darauf einfache zwischenmenschliche Kontakte zu erzählen.

Bestimmte Frauen
von Bernhard Frena

Im Titel von Kelly Reichardts neuem Film CERTAIN WOMEN verbirgt sich schon die zentrale Ambivalenz, um die sich alles zu drehen scheint. Reichardt zeigt „certain women“, bestimmte Frauen. Ganz konkret: vier spezifische Frauen. Reichardt zeichnet aber auch ein Bild von „certain women“ von einer bestimmten Art Frauen. Frauen in bestimmten Situationen, die aber auch durch diese Situationen bestimmt werden.
Drei Episoden werden hierbei ineinander verschachtelt. Eine Rechtsanwältin (Laura Dern) versucht vergeblich ihren Klienten vor sich selbst zu retten. Eine Mutter (Michelle Williams) stößt beim Bau ihres Familienhauses auf Stolpersteine. Eine Pferdehüterin (Lily Gladstone) und eine Lehrerin von Schulrecht (Kristen Stewart) sind unfähig aus einer Begegnung eine Beziehung werden zu lassen. Die Berührungspunkte zwischen diesen Narrativen sind hierbei nur angedeutet. Hauptsächlich hängen sie an einzelnen (Neben-)Figuren, die tangentiale Verbindungen aufbauen.
Ein zusammenhängendes Bild bestimmter Frauen zeichnet Reichardt hierbei erst über ihre distinkte Bildsprache, welche dem Raum, in dem sich die Protagonistinnen bewegen, so viel Platz zuspricht. In Reichardts Bildkadern scheint immer mehr im Blick zu sein als unbedingt nötig. Und auch die Dauer, für die es sichtbar ist erscheint oft exzessiv. Dies lässt sich gleich an zwei Einstellungen zu Beginn des Filmes sehen.
Die Opening Credits laufen über der langen Einstellung eines Zuges, der aus der Tiefe des Bildes langsam den Bildraum durchquert. Die Titel sind hierbei sehr geschickt in die obere Ecke des Bildes verschoben, wodurch der Inhalt der Einstellung in voller Breite wirkt. Und es ist gerade die Breite dieser Landschaft des ‚American Northwest‘, welche hier bereits eingeleitet wird und in diversen Landschaftsaufnahmen und weiten Einstellungen im ganzen Film immer wieder als fünfte Protagonistin zum Tragen kommt. Reichardt hält diese Einstellung weit länger als nötig. Das Durchqueren des Zuges wirkt fast verlangsamt, er scheint förmlich durch diese Landschaft zu kriechen. Die Dauer rekurriert hier unmittelbar auf den Raum, macht ihn in seiner Größe erst erfahrbar.
In einer zweiten Einstellung wenig später sehen wir Laura Dern und James Le Gros. Statt uns die beiden Figuren jedoch im gleichen Raum zu zeigen, trennt die Einstellung sie. Während Dern auf dem Bett im einen Raum sitzt, steht Le Gros im Raum nebenan. Die Kamera ist so positioniert, dass sie beide Darsteller*innen jeweils am Rand des Bildes einfängt, räumlich separiert durch Mauern und Türrahmen. Diese Kadrierung zeigt uns mehr als nur die für den Plot nötigen Informationen. Sie zeigt uns die Beziehung von Charakteren und von Charakteren zum Raum.
Dieses ‚Mehr‘ der Bilder, dieses ‚Mehr‘ an Dauer wie auch an Raum ist es, welche Reichardts Filme allgemein, aber diesen besonders ausmachen. In diesem ‚Mehr‘ werden erst die Bedingtheiten offensichtlich in denen sich Reichardts Figuren bewegen, wird erst deutlich wie eingeschränkt ihre Bewegungsräume sind, wie abhängig sie sich von anderen Figuren machen. Reichardts Film zeigt ganz bestimmte, spezifische Frauen. Gleichzeitig zieht Reichardt aber auch die Parallelen zwischen diesen Figuren, parallelen auf einer bildsprachlichen Ebene. Parallelen zwischen Figuren und Raum. Bewegungsmöglichkeiten und Bewegungsunmöglichkeiten. Parallelen, die in dieser Form nur ein Film ziehen kann.

Wild West Frauen und die Leichtigkeit des Seins
von Florian Holzapfel

Kelly Reichardts „Certain Women“ erkundet die Seele Montanas. Im Opening Shot zieht der Amtrak vorbei an der Bergkulisse der Rocky Mountains. Was jetzt folgt ist eine kleine subtile Liebeserklärung an Land und Leute. Vier Frauen stehen im Zentrum dieses leisen Filmes, deren Geschichten sich gelegentlich peripher überschneiden. Beinahe episodenhaft zeigt der Film kleine Ausschnitte aus dem Alltag seiner Protagonistinnen. Viel geredet wird dabei nicht. Jede verhandelt ihre inneren Konflikte und Eindrücke intern. Da ist zunächst Laura Wells (Laura Dern), eine Anwältin, die sich in einer Männerdomäne gegen einen verzweifelten und unkooperativen Klienten behaupten muss. Gina Lewis (Michelle Williams) ist dabei, ihren Traum vom eigenen Haus gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer Tochter zu verwirklichen und scheut dabei nicht, über Leichen zu gehen: für ihr authentisches Eigenheim kauft sie Albert, einem ältlichen Bekannten, einen Haufen alter Steine ab und konfrontiert diesen dabei am Ende seines Lebens mit eigenen Projekten, die er niemals zu Ende bringen wird. Beth Travis (Kristen Stewart) befindet sich in einer beruflich prekären Situation, in der sie jeden zweiten Tag von Livingston vier Stunden aufs Land fahren muss, um dort einen Kurs in Schulrecht zu geben, worin sie sich selbst nicht gut auskennt. Als sie schließlich eine andere Anstellung findet und ihr Kurs von einem anderen übernommen wird, muss sie feststellen, dass sie dadurch Jamie (Lily Gladstone), einer einheimischen Pferdepflegerin, unwissentlich einen Korb gegeben hat. Diese hatte dem Kurs nur beigewohnt, um die Lehrerin im heimischen Diner nach Kursende besser kennenzulernen. Doch auch sie muss nach einer spontanen Nachtfahrt nach Livingston erkennen, dass ihre zarten Empfindungen nicht erwidert werden. Ein bisschen einsam und verloren erscheinen diese Frauen in diesem weiten und dünn besiedelten Land. Und doch sind Reichardts Figuren ausgesprochen feinfühlig. Die Verbindungen die sie zwischen den einzelnen Charakteren knüpft, sind nicht augenscheinlich. Ohne selbst viel zu sprechen scheinen jedoch alle Frauen ein unglaublich feines Gehör für ihre Umwelt zu besitzen. Die nicht verhandelten Konflikte, die nicht kommunizierten Zärtlichkeiten sind in „Certain Women“ unwahrscheinlich laut. Man fröstelt ein bisschen bei diesem Film und sehnt sich unwillkürlich nach der Behaglichkeit eines Kaminfeuers.

Der Teufel liegt im Detail
von Vanessa Raiger

Basierend auf Kurzgeschichten von Maile Meloy inszeniert Kelly Reichardt die Welt vierer, in Montana lebenden, Frauen.

Auf subtile Art bringt sie dem Publikum die Kommunikationsschwierigkeiten ihrer Filmfiguren nahe. Jedoch stehen in diesem behutsam dargestellten Episodendrama nicht nur die Protagonistinnen im Vordergrund, sondern auch die ikonographischen, auf 16 mm festgehaltenen, Landschaftsaufnahmen. Und obwohl der Film mit einer Starbesetzung auf eine Mainstream Kinoerfahrung deuten lässt, entgleitet der Streifen nicht dem Genre des Autorenkinos des 21 Jahrhunderts.

Im ersten Teil wird dem/der Zuschauer/in die Anwältin Laura (Laura Dern) vorgestellt, die mit einem sturen Klienten zu kämpfen hat. Obwohl Laura ihrem Klienten Fuller (Jared Harris) bereits seit Monaten versucht klarzumachen, dass eine Schadensersatzklage gegen seinen alten Arbeitgeber zwecklos ist, stößt sie bei ihm auf wenig Resonanz. Um seiner Verzweiflung Ausdruck zu verschaffen, nimmt Fuller eine Geisel. Dabei wird Laura als beschwichtigende Vermittlerin zu Rate gezogen und in die Gefahrensituation geschickt.

Liest man lediglich den Plot dieses ersten Kapitels, könnte man darauf schließen mit einem Aktion geladenen Thriller konfrontiert zu sein. Doch der Schein trügt, denn Kelly Reichardt inszeniert diese Geiselnahme, sehr entschleunigt wobei der/die Zuschauer/in von vornherein mit einem Gefühl der Ruhe, die Protagonistin begleitend, in den Krisenherd geschickt wird.

Im folgenden Kapitel wird sehr viel über die Mimik und Gestik der Darsteller verhandelt. Gina (Michelle Williams) ist dabei versucht ihrem, senil werdenden Nachbarn Albert (Renè Auberjonois) wertvollen Sandstein auf unaufdringlicher, jedoch zutiefst manipulativer Ebene, abzuschwatzen. Begleitet wird sie dabei von ihrem Mann, dem die Errungenschaft des wertvollen Gesteins ebenfalls zugutekommt, da das Ehepaar damit seinen Traum vom Eigenheim verwirklichen möchte.

Männer spielen dabei eine wichtige Rolle. Egal in welcher Position sie angesiedelt sind, sie stellen immer ein Hindernis der Protagonistinnen dar. Sei es bei der Anwältin der schwierige Klient, der erst durch die Meinung ihres männlichen Kollegs die Zwecklosigkeit seiner Klage zu akzeptieren scheint. Oder Ginas Ehemann der ihre, bei der Diskussion mit dem Nachbarn, mit Nichten zur Seite steht. Die versteckte Botschaft scheint hier eine leise Anklage der nach wie vor erhaltenen Diskrepanz zwischen Männern und Frauen in der Gesellschaft zu sein.

Schlussendlich zeigt die Regisseurin eine einseitig aufkeimende Romanze. Jaime (Lily Gladstone) ist eine einsame eine Ranchbesitzerin. Um ihrem Alltagstrott zu entkommen besucht sie eines Abends das nahegelegene Community College, wo sie über einen Rechtskurs stolpert. Dieser Kurs wird von der angehenden Juristin Beth (Kristen Stewart) gehalten, um ihr Resümee aufzubessern.

Getrieben von der Sehnsucht, Beth besser kennenzulernen, entwickelt Jaime eine gewisse Routine, in der sie die Lehrerin nach der Unterrichtseinheit noch ins Diner begleitet. Aufgrund des fast schon narzisstischen Charakters der Lehrerin, scheint diese blind für die Avancen Jamies zu sein.

Es ist ein minimalistisch gehaltener Film über Hürden, und alltägliche Problematiken die die Frauen zu bewältigen haben. Behutsam zeigt Kelly Reichardt dialogische Fehlinterpretationen, die auf der Zentrierung des eigenen Selbst beruhen. Wenig wird über verbale Mechanismen kommuniziert, vermittelt werden Gedanken und Emotionen über die starke Mimik der Protagonistinnen. Obwohl der narrative Zusammenhalt bei diesem, dem Realismus unterzuordnende Arthouse-Werk, oftmals schwer zu erkennen scheint, kann der/die Rezipient/in dem Handlungsstrang, mit etwas Eigeninitiative, folgen und sich von den malerischen Landschaften Montanas bezaubern lassen.

Warum weniger manchmal mehr ist
von Lisa-Marie Hinger

In diesem Film dreht sich alles um sie – drei von Grund auf komplett unterschiedliche Frauen, die sich aber doch ähnlicher sind, als es auf den ersten Blick scheint. Die Anwältin unter ihnen plagt sich mit einem ihrer Klienten herum, einem unzurechnungsfähigem Mittvierziger, wobei deren Verhältnis nicht eindeutig definierbar ist. Wenn sie nicht gerade mit ihrem Klienten beschäftigt ist, hat sie eine Affäre mit Ryan, wodurch wir zur nächsten Frau kommen. Die von Michelle Williams dargestellte Mutter und Ehefrau Gina, welche von ihrem Ehemann Ryan betrogen wird, es selbst nicht weiß und vermutlich nie erfahren wird. Die dritte und letzte Frau im Bunde der „Certain Women“ ist Jamie, kurz „the rancher“ genannt, die abgeschottet auf einer kleinen Ranch fern der Stadt wohnt. Sie fasziniert sich an einer Aushilfs-Lehrerin, der sie bis in die vier Stunden entfernte Stadt folgt um sie wiederzusehen –  Anerkennung oder erwiderte Gefühle erfährt sie jedoch nicht.

Es gibt zwei Dinge, auf die man in diesem Film wartet: Höhepunkt und Schlüssigkeit. Man wartet und wartet, auf irgendetwas, das eine der drei Hauptprotagonistinnen aus ihrem Schema ausbrechen lässt, auf einen Gefühlsausbruch der Emotionen, der durch das Material dieses Films mehr als gerechtfertigt wäre. Man wartet vor allem auch darauf, dass die einzelnen Geschichten einen Zusammenhang bilden und die Frauen irgendwann durch Zufall aufeinander stoßen. Ein offensichtlicher Zusammenprall der drei Frauen ist nicht Inhalt des Films, es gibt keine verbindende Geschichte  jedoch verbindet die Regisseurin sie indirekt miteinander: Die Anwältin Laura hat eine Affäre mit Ginas Mann Ryan und als Jamie auf der Suche nach der Lehrerin Beth ist, macht sie Halt in Lauras Anwaltskanzlei. Eine einfache Erklärung hierfür wäre, dass das Material dieser Adaption den Kurzgeschichten von Maile Meloy entnommen ist und daher grundsätzlich keine Verbindung hat.

Man wartet also auf etwas Verbindendes, etwas Spannendes, das die Geschichte intensiviert. Dies scheint auf den ersten Blick so, jedoch liegt die Spannung die ganze Zeit vor unseren Augen. Obwohl hier auf den ersten Moment keine schlüssige Erklärung für den Zusammenhang der Figuren gefunden werden kann, sollte man versuchen, den Film anders zu betrachten. Im Gegensatz zu anderen Filmen wird nicht das auf der Leinwand abgebildet, das gesagt werden will sondern vielmehr wird durch die Beobachtung des Alltäglichen die Botschaft vermittelt. Es entstehen viele Konflikte, die nicht offen ausgetragen werden und daher für den Zuschauer kaum spürbar sind. Was hier vom Rezipienten verlangt wird, ist eine sanfte Beobachtung und ein Auge für das Detail. Die Regisseurin arbeitet offensichtlich nicht mit Worten, die Kommunikation wird reduziert und das Hauptaugenmerk auf die tiefgründige und emotionale Interaktion der ProtagonistInnen selbst gelegt.

CERTAIN WOMEN
von Fabian Schubert-Heil

Kelly Reichardt präsentiert in Certain Women drei Geschichten, die lose miteinander verbunden sind. In der weiten Leere des amerikanischen mittleren Westens begleiten wir für eine Weile Laura (Laura Dern), Gina (Michelle Williams), eine Pferde-Rancherin (Lily Gladstone) und Beth (Kristen Stewart). Allesamt sind sie starke Frauen auf ihre unterschiedliche Art und Weise und allesamt müssen sie immer wieder feststellen, dass es vielleicht doch manchmal einfacher wäre, wären sie ein Mann. Dieser feministische Anklang findet meist in kleinen Nebensätzen Ausdruck, drängt seine Protagonistinnen aber nicht in die Rolle eines Opfers. Besonders subtil ist er aber auch nicht. Vielmehr portraitiert Reichardt in rauschenden Bildern ein Bild der amerikanischen Ödnis zwischen Kanzlei und Farm. Gelegentlich berühren uns die Begegnungen und Blicke dieser gewissen Frauen und doch ergibt sich am Ende ein Gefühl der Überwältigung durch Kitsch. Der Lens Flare, das Bildrauschen, das fahle Licht. Gepaart mit den üppigen Landschaften wirkt dies alles wie aus dem Musikvideo einer hippen Indiefolk-Band und so als hätte man all dies schon hundertmal gesehen. Reichardt konstruiert hier Figuren, die zwar trist aber doch selbstbestimmt sind. Diese Figur gibt es in der männlichen Variante unzählige Male im Kino und vielleicht ist es bloß fair, dass nun auch Frauen Platz in diesem Spektrum finden. Vielleicht ist es aber auch eine liegengelassene Möglichkeit für Neues. Dieser Film wirkt oft unentschlossen. Er ist schön anzusehen und versucht mit den prägnanten Einzelschicksalen eine Allgemeingültigkeit zu schaffen, der er nicht gerecht wird. Daran können auch die mitunter sehr guten Leistungen der Schauspielerinnen nichts ändern.

Ein Film der sich still und subtil gibt aber dabei in Pseudo-Arthouseromantik verliert.

Certain Women
von Lisa Eckerstorfer

Kelly Reichardts Episodendrama „Certain Women“ basiert auf der Kurzgeschichtensammlung „Both Ways Is the Only Way I Want It“ von der amerikanischen Autorin Maile Meloy und dreht sich um das Schicksal von vier Frauen, die mit unterschiedlichen Konflikten zu kämpfen haben und verschiedene Ziele in ihrem Leben verfolgen. Daraus entstehen drei Geschichten, die jede für sich allein erzähl werden könnte, die einander aber doch bedingen.

Montana, Heimatbundesstaat von Laura Wells (Laura Dern), Gina Lewis (Michelle Williams), Beth Travis (Kristen Stewart) und Jamie (Lily Gladstone). Vier Frauen, die dem ersten Anschein nach nicht sonderlich viel gemeinsam haben. Anwältin Laura versucht schon seit Monaten die Probleme mit ihrem Klienten Fuller (Jared Harris) zu bewältigen und wird schließlich auch noch der Gefahr ausgesetzt, eine Geiselnahme zu beenden. Gina und ihr Ehemann Ryan (James Le Gros) haben es sich zur Aufgabe gemacht, ihr eigenes Haus zu bauen. Doch die Beziehung zwischen den beiden ist längst nicht mehr die, die sie einst einmal war. Auch die gemeinsame Tochter macht es der ambitionierten Gina nicht leicht. Und dann gibt es noch die Ranch-Besitzerin Jamie, die den Winter völlig isoliert mit ihren Pferden verbringt sowie Beth, eine jungen Anwältin, die in einer Abendschule unterrichtet, wo sich auch die Wege der beiden Protagonistinnen kreuzen. In den regelmäßigen Diner-Besuchen nach dem Unterricht kommen sich Jamie und Beth näher.

Schlicht und tiefgründig zugleich erzählt Kelly Reichardts drei separate Geschichten, die kaum Überschneidungen aufweisen. Verbunden sind diese nur durch die Affäre, die Laura mit Ryan, Ginas Ehemann, hat und Jamies Besuch in Lauras Kanzlei, auf der Suche nach Beth.  Elemente, die nicht thematisiert werden müssen und sich nur im Hintergrund abspielen. Reichardts steigt ohne großartige Einleitung in das Leben der Protagonistinnen ein und arbeitet mit kleinen Details, die ausschlaggebend für das Verstehen von deren Gefühle sind. Somit entsteht ein behutsamer und gefühlvoller Erzählfluss, der aus „Certain Women“ ein emotionales Drama macht. Zwischenmenschliche Beziehungen und Konflikte, sowie die Auseinandersetzung mit der eigenen Person stehen im Mittelpunkt. Die Kamera nimmt dabei eine beobachtende Stellung ein und begleitet die vier Frauen bei oftmals alltäglichen Situationen und auf der Suche nach ihrem verlorenen Selbst.