Bildquelle: (c) Viennale
Inhalt
Vieles scheint genau so, wie man es kennt von den Brüdern Dardenne: Ort der Handlung ist einmal mehr das belgische Städtchen Seraing; die Kamera folgt den Figuren als aufmerksamer Beobachter; viele aus früheren Filmen vertraute Gesichter tauchen auf. Neu dagegen ist Adèle Haenel, die hier mit hypnotisierendem Minimalismus die Ärztin Jenny spielt, die sich für den Tod einer Frau aus Afrika verantwortlich fühlt, weil sie deren spätes Klingeln an ihrer Praxistür ignoriert hatte. Neu ist auch, dass sich das Geschehen als Krimi entfaltet, mit Jenny als engagierter, unermüdlicher Ermittlerin im Zentrum. (c) Viennale
Kritiken
Die Namenlose am Rande des Ufers
von Julia Baschiera Philomena
Eine Stunde nach Ordinationsschluss läutet es an der Tür. Der Praktikant steht auf und möchte die Hilfsbedürftige hereinlassen. Aber die Ärztin Jenny widerspricht intuitiv, um den hierarchisch unterlegenen Julien zu korrigieren. Am nächsten Morgen wird die junge Frau Doktor mit der Nachricht konfrontiert, der späte Gast sei tot in einem nahen Fluss aufgefunden worden und unidentifizierbar.
Die belgischen Frères Dardenne haben mit „La fille inconnu“ ihren zehnten Spielfilm verwirklicht und mit Adèle Haenel in der Hauptrolle als Jenny Davin ein bemerkenswertes Portrait einer jungen Ärztin gezeichnet, welches 2016 im Rahmen des Festival de Cannes seine Weltpremiere feierte. „La fille inconnu“ behandelt Themen wie anonyme Co-Existenz, die Veränderung der eigenen Prinzipien, Schuldgefühl als Antrieb und die Notwenigkeit der Identitätsfindung – sowohl jene der Mitmenschen, als auch die eigene.
Ein schönes Bild der Tristesse: Frau Dr. Davin arbeitet als Vertretung in einer Hausarztpraxis in Seraing. Diese befindet sich an einer Schnellstraße und wird so zum Sinnbild der im Film thematisierten Anonymität. Die Inneneinrichtung ist spärlich und ebenso der private Aufenthaltsbereich. Wenn sich Jenny in der Früh pflichtbewusst die Haare zusammenbindet, das Fenster öffnet, sich hinausbeugt und noch schnell eine Zigarette raucht, dröhnt der Straßenlärm, während der graue Himmel das Bild vereinnahmt.
Nicht mehr lange und Jenny könnte diesem nüchternen Ausblick entfliehen, denn ihr wurde ein hoher Posten an einem angesehenen Krankenhaus angeboten. Anfangs ausschließlich ihrem schlechten Gewissen geschuldet, entschließt sich die junge Medizinerin in der Hausarztpraxis zu bleiben. Sie will die Identität der verstorbenen Frau herausfinden, die vielleicht ermordet worden ist und die zuvor niemand je gesehen haben möchte. Sie entschließt sich einen Fall zu lösen, der selbstverständlich nicht in die Zuständigkeit einer Ärztin fällt, sonder in die der Polizei. Trotz wiederholter Aufforderungen, sich nicht in die Ermittlungen einzumischen, fährt Jenny manisch durch die von Ignoranz und Kälte geprägte Provinz und blickt dabei in vielfältigste menschliche Abgründe. Und das so lange, bis sie von einem ihrer eigenen Patienten, dem Schüler Bryan, in eine Schuttgrube geworfen wird und schließlich selbst um Hilfe schreit. Spätestens an diesem Punkt zeigt sich, dass sich Jenny mindestens genauso um ihre eigene Identitätsfindung bemüht, wie um die der Verstorbenen.
Als die Mauern des Schweigens langsam zu bröckeln beginnen und die ersten in den Fall Involvierten anfangen zu sprechen, wird aus der orientierungslosen Besessenen Jenny eine empathische Vertrauensperson. Von allen Seiten wird sie plötzlich nachts aus dem Schlaf gerissen, um sich die Lebensgeschichten und ethischen Verwerfungen der Anderen anzuhören. Mit therapeutischem Eifer folgt sie den Ausführungen. Liebevoll und aufmerksam verarztet sie die seelischen Malaisen ihrer Patienten und scheint ihre Ruhelosigkeit langsam aber doch zu verlieren.
Nicht zum ersten Mal tragen die Brüder Dardenne eine soziale Botschaft offen vor, allerdings erinnert die Narration zuweilen an so manche, vor Moral triefende Geschichte des 19. Jahrhunderts. Dass dieser pädagogische Impetus nicht überhand nimmt, ist Adèle Haenel zu verdanken, in der das Regie-Duo eine profilierte Darstellerin für eine faszinierende Frauenfigur gefunden hat. Der Ärztin beim Umgang mit ihren Patienten zuzusehen ist berührend, ebenso die Transformation ihres Charakters und die des leeren Blicks, der im Zuge des Filmes immer mehr Klarheit gewinnt. Man kann und möchte jedem Handgriff Glauben schenken und sinkt erleichtert zurück in den Kinosessel, wenn sich Jennys Suche als beendet versteht.
La Fille Inconnue
von Justin Schroeder
Zusehen und vor allem Zuhören ist was die Zuschauer in dem neuen Film von Luc und Jean-Pierre Dardenne machen sollen. La Fille Inconnue spielt, wie auch andere Filme der Dardenne Brüder, in Belgien und fängt Aspekte des Leben in einer Kleinstadt ein. Die Protagonistin dieses Films, eine junge Ärztin die sich schuldig fühlt einer jungen Frau nach Arbeitsschluss keinen Einlass in ihre Praxis gewährt zu haben, weiß zu Beginn noch nicht wirklich wo sie im Leben hin will. Die junge Unbekannte wurde am Tag darauf nicht weit entfernt von der Praxis tot aufgefunden. Jenny Davin die Ärztin hatte bis dahin große Pläne, so wollte sie diese Praxis bei der sie nur ausgeholfen hat am nächsten Tag verlassen um ihren Job in einer renomierten Privatpraxis anzutreten. Nach diesem Vorfall verändern sich ihre Prioritäten und Ziele komplett, sie will diese Praxis die wahrscheinlich hätte geschlossen werden müssen übernehmen und sie will unbedingt den Namen der Verstorbenen herausfinden. Jenny will nicht, dass die tote Frau einfach beerdigt wird und verschwindet ohne dass irgendwer weiß wer sie war. Für Jenny ist diese Suche auch als eine Form der Selbstläuterung zu verstehen die sie abschließen muss bevor sie sich wieder ihrem eigenen Leben zuwenden kann.
Wie auch bereits in früheren Dardenne Filmen stehen in diesem Film soziale Verhältnisse ziemlich weit im Vordergrund. Das „Zuhören“ ist das zentrale Motiv, welches sich durch den ganzen Film zieht, wie auch Luc Dardenne selbst gesagt hat, und die einzelnen Situationen verbindet. Weitere Motive die sehr prominent im Film auftreten sind beispielsweise das Mobiltelefon, welches in diesem Film als regelrechtes Allzweckwerkzeug ausgestellt wird. Jenny benutzt es in erster Linie natürlich um zu kommunizieren über Anrufe und Sms aber auch als Stoppuhr um den Puls eines Patienten zu messen, als Fotoapparat um ein Foto der Verstorbenen zu machen und als Plattform um das Foto wieder herzuzeigen.
Die Suche nach dem Namen des Mädchens ist zugleich spannend als auch frustrierend da Jenny sehrwohl mehrere Personen trifft die Informationen über das Mädchen haben aber ihr zuerst nichts erzählen wollen um ihre eigene Position zu schützen. Wie in vielen Dardenne Filmen ist auch das Thema der Immigration in diesem Film zu finden wenn auch nicht so explizit wie in Le silence de Lorna (2008), so handelt es sich bei der jungen Unbekannten um eine Immigrantin, die falsche Papiere besitzt, was die Identifikation natürlich noch schwieriger macht. Eine Schlussfolgerung die aus dem Film gezogen werden kann ist, dass Heilung erfahren werden kann indem man seine Taten akzeptiert und bereit ist darüber zu reden. Der Film besticht durch seine klaren Aussagen und die interessante Art und Weise, wie die Dardenne Brüder diese bereits oft behandelte Thematik in diesem Film einmal etwas anders darstellen.
Für immer vermisst?
von Susan Catherine Häußermann
Die bekannten belgischen Filmemacher und Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne präsentieren der Welt dieses Jahr ihren neuen Film La Fille inconnue, welcher sich in eine bereits lang existierende und stetig wachsende Liste an Werken der Dardenne Brüder einreihen darf.
Das Leben einer jungen Hausärztin namens Jenny Devin, die von der mehrfachen César-Gewinnerin Adèle Haenel verkörpert wird, änderte sich schlagartig, als es eines abends nachdem die Praxis bereits seit einiger Zeit geschlossen war, an der Tür klingelte. Als ihr Studienpraktikant Julien (Olivier Bonnaud), zu dem Jenny einen ungewöhnlichen Umgang pflegte, im Begriff war die Tür zu öffnen, unterband sie die Aktion mit der Begründung, dass Menschen, die sich in einer Notsituation befinden niemals nur einmal klingeln würden. Dass sie die indirekte unterlassene Hilfeleistung bereits am nächsten Morgen bereuen würde, war ihr zunächst nicht klar. Doch durch die Videoaufnahmen der Überwachungskamera, welche vor dem Eingang der Praxis installiert war, belegten, dass es sich um eine junge, hilfesuchende Frau handelte, deren Leiche man anschließend unidentifiziert in der Umgebung gefunden hatte. Die Protagonistin Jenny, die einen Kollegen eigentlich nur zeitweise in seiner Praxis in einer Kleinstadt vertreten sollte, wird fortan von Schuldgefühlen gequält, welche sie zu einer privaten Ermittlung des Falls befähigen. Zu grausam wäre für sie die Tatsache, dass das unbekannte Mädchen ohne Wissen ihrer Familie und Freunde anonym beerdigt werden würde. Ohne Grund, ohne Namen, für immer vermisst. Mit einem Screenshot im Schlepptau, welcher von den Videoaufnahmen stammt und auf dem das von Angst gezeichnete Gesicht des noch unbekannten, toten Mädchens deutlich zu erkennen ist, macht sich Jenny auf eigene Faust auf den Weg und bringt sich nach und nach selber in eine gefährliche und verstrickte Situation.
Jennys Privatleben wird im Film zwar kaum diskutiert, es hat allerdings den Anschein als widme sie ihr Leben restlos der Medizin. In mehreren Szenen werden ihre innigen Beziehungen zu ihren Patientinnen und Patienten dargestellt. Sei es ein selbst komponiertes Lied, das für sie von einem ihrer Schützlinge vorgetragen wird oder kleine Präsente in Form von Lebensmittel, die sie gelegentlich nach ihren Hausbesuchen mit auf den Weg bekommt. Ihre Patientinnen und Patienten schätzen ihre Dienstbereitschaft und ihr Vertrauen.
In einem Film, der sich mit Mord und kriminellen Machenschaften beschäftigt ist es zudem auffällig, dass die Polizei, die sich ja eigentlich um solche Angelegenheiten kümmern sollten, nur eine sehr kleine bis nicht vorhandene Rolle auf der menschlichen Ebene spielt. Ihre Vorgehensweise ist sachlich und nicht wie Jennys emotional motiviert. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Jennys Methoden den Fall schneller lösen als die der professionellen Ermittler.
Der Film thematisiert einen Wendepunkt in dem Leben der jungen Ärztin. Man hat zunächst das Gefühl, dass sie auf Grund der Vorkommnisse ihre bereits sichere Anstellung in einer höher angesehenen Privatpraxis, ablehnt. Als könne sie sich ihrem eigenen Alltag erst wieder widmen, wenn sie den richtigen Namen und die Familienmitglieder der Frauenleiche gefunden hat. Erst dann könne sie wieder zur Normalität zurückkehren. Auf der anderen Seite scheint diese Ausnahmesituation der 24/7 Ärztin dabei zu helfen, ihren eigenen Weg im Gesundheitssystem zu finden. Einer Branche, in der es zunehmend mehr um Geld, Macht und Prestige geht, als darum denen Hilfe zu leisten, die es am dringendsten benötigen.
La Fille inconnue bedient sich einer simplen Story mit ebenso simpler Umsetzung. Dennoch schaffen es die Dardenne Brüder durch die vielschichtig gezeichneten Charaktere und einer dicht kreierten Stimmung die Rezipientinnen und Rezipienten ein mehr oder weniger spannendes Mitverfolgen der Geschichte zu ermöglichen.
La fille inconnue
von Lea Deborah Aigner
Ernste Miene und sorgenvolle Augen. So lernen wie die junge Ärztin Jenny Davin von Anfang an kennen. Dies ändert sich dabei fast den ganzen Film über nicht. Verwundernswert ist das nicht, denn Jenny ist im Dauerstress, immer einsatzbereit und egal um welche Uhrzeit für ihre Patienten da. Nur an einem Abend lässt sie ihre sonst so gute Intuition im Stich. Und genau an diesem Punkt nimmt das Drama von Jean-Pierre und Luc Dardenne seinen Lauf.
Ein junges Mädchen läutet an der Tür der Praxis, die Jenny nur übergangsweise vertritt. Bald soll sie nämlich große Karriere machen. Doch Jenny macht nicht auf. Die Praxiszeit ist schon längst vorbei, meint sie zu ihrem Praktikanten. Am nächsten Morgen wird jedoch eben jenes Mädchen, tot auf dem Ufer der Maas gefunden. Namenlos und mit unbekannter Identität. Schlechtes Gewissen macht sich bei Jenny breit und die Frage nach der Moral beginnt. Hätte sie das Mädchen retten können? Ist sie schuld an ihrem Tod? Fragen, die der jungen Ärztin zu schaffen machen. Aus schlechten Gewissen heraus macht sie es ich zur Aufgabe die Identität des afrikanischen Mädchens heraus zu finden. Gleichzeitig ist es auch der Moment, in dem sich Jenny selbst aufgibt und ihr Leben nur noch für ihre Patienten und für das „fille inconnue“ lebt. Bezeichnend dafür ist der Umzug von der privaten Wohnung in die Praxis. Jennys Charakter beginnt sich zu wandeln. Dabei können die Zuschauer tief in die Gefühlswelt der jungen Ärztin hinein sehen. Nahaufnahmen, realistisches Licht und der spärlich ausgestattete Raum der Praxis unterstreichen die Tristesse des Alltags. Schließlich übernimmt Jenny sogar die Praxis des pensionierten Arztes. Jenny verwandelt sich von der karriereversierten Ärztin zu einer selbstlosen Frau, die dem armen Milieu in Liege ganz nahe ist. Sie taucht damit in eine Welt der Prostitution, Armut und Gewalt ein und tut alles um die Ermittlungen nach dem unbekannten Mädchen voran zu bringen. Mit der Suche nach der Identität des afrikanischen Mädchens gibt sie schließlich ihre eigene Identität auf. Man fragt sich aus Zuschauer bald: Wer ist Jenny überhaupt?
Eine junge Frau die scheinbar keine Familie, keine Freunde hat und keine Beziehung führt. Die einzig menschliche Bindung die sie zu pflegen scheint, ist die zu ihrem Praktikanten, der am Tag des Geschehens das Handtuch wirft. Jenny Davin ist so mehr ein Mittel um auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen. Mit dem engelsgleichen Charakter der Ärztin zeigen die Dardenne-Brüder eine Person die verzweifelt versucht das soziale Ungleichgewicht der Welt auszubalancieren. „La fille innconnue“ hinterlässt ein schweres Gefühl und regt zum Nachdenken an. Mit dem sozialen Drama wird nochmal darauf hingewiesen, dass unsere Gesellschaft noch mehr Solidarität, Nächstenliebe und Engagement braucht. Mit der Frage wie weit die Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft gehen sollte, wird der Zuschauer aber schließlich alleine gelassen.
La Fille Inconnue
von Morteza Latif
Ein unbekanntes Mädchen erkannt ein anderes Mädchen (junge Ärztin)
Die Suche nach einem unerkannten Mädchen von einer jungen Ärztin ergibt teilweise ihr Charakter. Mit einer langen Halbtotalen Aufnahme (fast das ganze Film ist ein Medium Close Up von junger Ärztin) kennen wir ihr mehr als das unbekannte Mädchen. Auf einer anderen Weise kennen wir die zwei junge Frauen: wir sehen die eine im Bild, weil wird die andere durch das Verfolgen von Jenny im unserer Fantasie dargestellt.
Jeder kann sich etwas einbilden. Es kann auch als „suspens“ des Films benannt werden. Der Film beginnt mit einer Szene, wo Jenny mit ihrer Assistentin, die Atmung, einen alten Man untersucht. Die Atmung wirkt als Symbol des Lebens. Sowohl sie fühlt sich verantwortlich für das Leben Ihren Patienten als auch für das Tod des jungen Mädchens. Ihre Verantwortlichkeit werde in der nächsten Szene realisiert werden, wo sie im Haus des alten Manns nach der Untersuchung mit seiner sozialen Betreuung telefoniert. Oder ein klares Element ist das Ihr Handy für Ihre Patienten immer verfügbar ist. Das könnte auch als Schuldgefühl betrachtet werden. Jenny glaubte, das, wenn sie die Tür für Mädchen geöffnet hätte, würde das Mädchen nicht gestorben. Schwerpunkt des Films ist das die“ Suche“ wird mit dynamisch Kamera visualisiert. Die Kamera auf der Hand erlaubt dem Zuschauer sich aktiv zu fühlen. Mise en Scene wurde oft Verfolgung der Kamera deren Sujet gestaltet.
Wir sehen oft Jenny und bleiben wir bei ihr als Zuschauer und finden die Möglichkeit auf Jenny zu fokussieren. Es gibt kein hoher Rhythmus. Es gibt wenige Schnitte und das Montag versucht mit Jump Cut die Handlung darzustellen. Statt Schuss und gegen Schuss wurde die Szene mit Kameraschwenk gedreht. Der wolkige Wetter beeinflusst die Spannung des Films. Die Beleuchtung ist ganz realistisch und kein sentimental oder Surreal Beleuchtung existiert. Wie ich vorher erwähnt habe, ist der Film in einem halbtotalen und wenigen Großaufnahme von Jenny gedreht. Regisseure bemühen sich durch eine gewisse Form um Jennys Charakter zu interpretieren. Die Frage, ob sie für den Tod des Mädchens schuldig ist, taucht hin und wieder auf. Wir konfrontieren in vielen Momenten unsere Leben mit solchem Geschehen: wie wir besser reagieren sollen oder sollten.
Ob wir an Schicksal glauben müssen? Kommt Tod an einem gewissen Zeitpunkt und niemand kann ihn aufhalten? Kann eine Ärztin ihn verschieben ? Die sind auch andere Fragen, die im Film uns beschäftigen.
„La Fille Inconnue“
von Rüya Ince
Mit dem Film „La Fille Inconnue“ hat das wohl berühmteste Regieduo des europäischen Autorenfilms, Jean-Pierre und Luc Dardenne, einen weiteren Beitrag zur Viennale geliefert. Der Film handelt von der jungen, aufstrebenden Ärztin Jenny, die nach einem Vorfall vor ihrer Praxis den darauffolgenden Todesfall untersucht, was sich jedoch als sehr schwierig herausstellt, da sie auf eine Mauer des Schweigens stößt und in ihren Nachforschungen immer tiefer in einen Strudel aus menschlichen Tragödien und kriminellen Machenschaften gerät.
Der ganze Film ist von Anfang bis Ende von einer hochgradig bedrückenden Atmosphäre durchdrungen, die den Spannungsbogen aufrecht erhält. Sowohl diese Ästhetik, als auch die Gestaltung des Films wie die Präferenz der Regisseure für längere Einstellungen und der fast völligen Abwesenheit von Filmmusik verleihen dem Film ein recht realistisches Gefühl. Der Film bleibt in seinem Verlauf äußerst nah an der Protagonistin Jenny und versucht zu veranschaulichen, wie sie mit ihren Schuldgefühlen über den Todesfall umgeht und in dieser Weise sich mit Fragen des sozialen Gewissens auseinandersetzen muss. Insbesondere die emotionalen Hintergründe der Charaktere sind für ihre Handlungen von großer Bedeutung: Warum die Figuren das tun, was sie tun, wird häufig erst gegen Ende des Filmes für den Zuschauer ersichtlich, sodass die genaue Rolle vieler Charaktere bis zum Schluss unklar bleibt. Im Vordergrund des Films steht das moralische Gewissen der Figuren und die Gewissenskonflikte, in denen sie sich befinden.
In diesem Krimi-Drama beschäftigen sich Jean-Pierre und Luc Dardenne mit sozialen und politischen Problemen wie sozialen Schichten in der Gesellschaft, Gewalt an Frauen und schildern das Leben normaler Menschen vor einem außergewöhnlichen Vorfall der gesellschaftlichen Realität. Es gelingt den Dardennes, diese gesellschaftliche Problematik wiederzugeben, ohne in Klischees zu verfallen und stereotype Charaktere zu beschreiben.
Schuldanamnese
von Martin Knuhr
La fille inconnue stellt Fragen nach Schuld und Sühne, leidet jedoch zunehmend an der Inszenierung seiner Protagonistin
Jenny ist gut in dem, was sie tut. Sehr gut sogar. Die junge Ärztin arbeitet professionell, berechnend und selbstbeherrscht. Ihr winkt eine vielversprechende Anstellung und eine rasante Karriere. In der Praxis, die sie vertretungsweise übernommen hat, läuft alles streng nach Vorschrift. Ein Arzt, der sich von falschem Mitgefühl mitreißen lässt, macht Fehldiagnosen, erklärt sie Julien, ihrem Medizinstudenten-Gehilfen. Da ist es nicht verwunderlich, dass Jenny Julien verbietet, einem nach Ende der Praxisöffnungszeiten ertönenden Läuten an der Tür nachzugehen – bei einem Notfall wird ja nachdrücklicher geklingelt. Ein zweites Läuten wird es nicht geben. Die Hilfesuchende wird am Folgetag unweit der Praxis gefunden. Mit gebrochenem Schädel, aber ohne Namen. Sie wird zu jenem titelgebenden unbekannten Mädchen, deren Identität aufzuklären zu Jennys quasiheiliger Berufung wird.
Ein tiefes, verzehrendes Gefühl von Schuld ergreift Besitz von der jungen Medizinerin, die, wie um Buße zu tun, Karriere und Status in den Wind schlägt, die Praxis mit den wenig glamourösen Kassenpatienten übernimmt und auf eigene Faust beginnt, zu ermitteln. Ihre Fähigkeiten als Ärztin leisten ihr dabei auch als Kriminalistin gute Dienste und Schritt für Schritt tastet sich Jenny über eine Vielzahl von Gesprächen mit Patienten und Verdachtspersonen auf den Namen der toten Immigrantin zu, wobei ihr zugleich die Aufklärung des Verbrechens gelingt und sie neben der Suche nach Absolution ihres Versäumnisses in die Abgründe ihrer Mitmenschen blickt.
Die naturalistische, sozialkritische Herangehensweise, welche den Arbeiten des Drehbuchautoren- und Regisseurbruderpaars Luc und Jean-Pierre Dardenne so eigen ist, kommt auch in La fille inconnue zur vollen Geltung. Jennys Reise auf der Suche nach Vergebung führt sie in eine Vielzahl von Lebenssituationen und Gesellschaftsschichten, die, wenn auch nur wenige Häuserblöcke voneinander getrennt, unterschiedlicher nicht sein könnten. Gehbehinderte, verarmte Diabetiker, farbige Drogendealer, Prostituierte und Mittelständler kreuzen ihren Weg. Bedauerlich ist, dass bei aller Milieustudie gerade die Hauptfigur so bedauerlich blass bleibt. Wir erfahren wenig von Jenny, ihre moralische Obsession ob ihres Fehlverhaltens bleibt einziger Antriebsgrund ihres Charakters. Sie wird misshandelt, bedroht, männlicher Gewalt ausgesetzt, doch macht es aus ihr keine vielschichtigere Figur, eher einen Scherenschnitt, welchem dem Handlungsfortschritt angemessen dramatisierte Dinge geschehen, die abgearbeitet werden müssen. La fille innconue hätte eine Reflexion über Schuld und Pflichtbewusstsein vor dem Hintergrund von Privileg und Lebenssituationen an der Peripherie der Gesellschaft sein können, sein sollen. Es verkommt tragischerweise zunehmend zu einem mediokren Whodunit auf Tatortniveau.